Ich lag auf dem Gras und sah zum Himmel auf: 1, 2, 3 Wolken befanden sich genau in meinem Blickfeld und schwebten langsam Richtung Osten. Sorglos ließen sie sich vom Wind tragen - ohne zu wissen, wohin ihre Reise gehen wird.
Friedlich sah ich dem Schauspiel zu: Wie spielende Kinder, die um die Wette laufen, versuchte jede, die schnellste zu sein und als erste ans Ziel zu kommen. Sie erhoben sich immer weiter in die Lüfte und traten im glänzenden Schein der Sonne ihre scheinbar unendliche Reise an.
Wie gerne säße ich jetzt im Flieger und könnte auf all das hier hinunterblicken. Von oben sieht die Welt ganz klein aus und all die Probleme auf der Erde erscheinen unbedeutend und nichtig. Die friedlich vor sich hin schwebenden Wolken blicken auf uns hinab und sehen uns dabei zu, wie wir verzweifelt versuchen, unser Leben auf die Reihe zu bekommen.
All die Dinge, mit denen wir täglich zu kämpfen haben, würden von hoch oben lächerlich erscheinen - all die sinnlosen Streitereien und zwecklos vergossenen Tränen.
Wär doch alles nur genau so einfach hier:
Stück für Stück schwebten die Wolken immer weiter - glücklich und unbesorgt.
Der Frühlingswind wirbelte die Blätter auf und ließ ein angenehmes Frischegefühl zurück. Ich schloss die Augen und genoss die Ruhe. Eine Zeit lang war mein Kopf komplett leer - alle Probleme ausgeblendet - alle Sorgen wie ausgelöscht.
Minuten verstrichen und das einzige, was ich hören konnte, war der Gesang der Vögel und das Rauschen der Blätter.
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages trafen auf meine Haut und ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit breitete sich in mir aus - etwas, das ich schon lange nicht mehr gespürt habe.
Und plötzlich kamen alle Erinnerungen wie auf einen Schlag wieder zurück. Ich sah meine Mutter, die uns kurz nach meiner Geburt verlassen hatte - den Gesichtsausdruck meines Vaters, als bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert wurde - das erste Mal, dass es mein Vater nicht mehr geschafft hat, mit mir fangen zu spielen, außer Atem und gekrümmt vor Schmerzen - seine letzten Stunden, in denen ich weinend neben seinem Krankenbett lag und seine Hand hielt - und schließlich seine Beerdigung vor fünf Monaten.
In der letzten Zeit hatte ich wenig Gründe zum Lächeln und doch sah man meine Tränen nie in der Öffentlichkeit. Mein Vater hat mir immer gesagt, ich solle stark sein - komme, was wolle. Und wenn das sein letzter Wunsch war, würde ich alles dafür tun, um diesen erfüllen zu können.
Mit einem Mal zogen die Wolken vor die Sonne und ein kühler Schatten breitete sich über den Garten aus. Es wurde Zeit, wieder ins Haus zurück zu gehen und meine restlichen Sachen einzupacken. Ich lebte nun schon seit über einem halben Jahr bei meiner Tante Corinna und ihrem Mann und ohne ein Wort zu sagen, wusste jeder, dass es so nicht für immer weitergehen konnte.
Meine drei Cousins waren 3, 5 und 6 Jahre alt. Corinna und Tobias haben nie etwas gesagt und mich mit offenen Armen empfangen. Von Anfang an waren sie für mich da und boten mir an, bei ihnen zu wohnen, als unser Haus zum Verkauf gestellt wurde. Ich war ihnen wirklich dankbar und glücklich, nicht alleine sein zu müssen.
Doch mit der Zeit zeigte sich immer mehr, dass ich hier fehl am Platz war und eigentlich störte. Natürlich haben sie nie etwas in der Richtung gesagt. Aber ich sah es ihnen an: In jedem erschöpften Blick beim Füttern der Kinder und dem gleichzeitigen Versuch, mich durch ein Gespräch aufzumuntern, sah ich, dass ich für sie in ihrem auch so schon anstrengendem Alltag eine zusätzliche Last war.
Und doch werde ich dieses Haus vermissen. Jeder Raum weckte Erinnerungen an meinen Vater in mir: die Küche, in der wir Tante Corinna bei einem gelegentlichen Besuch beim Kochen ausgeholfen haben, das Esszimmer, in dem die ganze Familie jedes Weihnachten zusammen gesessen hat und das Wohnzimmer, in dem wir uns am Abend dann gemeinsam Filme angesehen haben.
Ich ging in mein Zimmer und war wieder damit beschäftigt, das Wichtigste in allen möglichen Taschen zu verstauen. Einige Wochen nachdem ich mit Tante Corinna und Tobias darüber gesprochen habe, dass es Zeit wird, eine andere Lösung für mich zu suchen, sagten sie mir, dass sie die Telefonnummer meiner leiblichen Mutter gefunden und sie über die Situation aufgeklärt haben. Sie war wohl damit einverstanden, mich aufzunehmen.
Zuerst war ich geschockt und konnte nicht glauben, was sie da sagten. Immerhin kannte ich diese Frau nicht und habe nur einmal im Jahr einen Anruf zum Geburtstag von ihr bekommen. Aber nach all dem, was passiert ist, war es mir ziemlich egal. Schlimmer konnte es kaum werden, also nahm ich das Angebot an und bereitete mich seitdem auf den Umzug vor.
Heute ist es soweit. Tante Corinna und Tobias haben sich dazu bereit erklärt, mich zu meiner Mutter zu fahren. Nachdem ich die letzte Tasche verschlossen habe und alles im Kofferraum verstaut war, verabschiedete ich mich von meinen Cousins und meiner Großmutter, die auf sie in der Zeit aufpassen würde.
Es war nicht leicht, die bekannte Umgebung zu verlassen: Das ländliche Haus und sein großer Garten sind mir in den letzten Monaten so ans Herz gewachsen, dass ich mich zusammenreißen musste, um beim Abschied nicht in Tränen auszubrechen.
"Ruf uns jeden Tag an oder schreib uns. Wenn du nicht mit ihr zurecht kommst, bist du jederzeit wieder willkommen, das weißt du. Ach, komm her Schatz. Ich werde dich so vermissen."
Ich nahm meine Großmutter in den Arm und fühlte mich sicher. Wie konnte ich mich nur dazu entscheiden, all das zu verlassen? Hier leben doch all die Menschen, die ich liebe. Doch es ist die richtige Entscheidung, auch wenn es schwer fällt.
Meine Cousins waren damit beschäftigt, mit ihren Spielzeugautos im Flur ein Wettrennen zu veranstalten, als Tobias ihnen zurief: "Leon, Tom und Ben, kommt und verabschiedet euch von eurer Cousine!". Widerwillig traten sie langsam auf mich zu - sichtbar enttäuscht, ihr Wettrennen abbrechen zu müssen. Ich umarmte sie und bekam ein gemeinsames "Tschüss, Katharina!" als Antwort, bevor sie auch schon wieder in den Flur verschwanden.
Ich ging zum Auto und sah ein letztes Mal zurück. Ich versuchte mir das Bild ganz genau einzuprägen, sodass ich mich immer daran zurück erinnern konnte, falls ich Heimweh verspüren sollte. Seufzend winkte ich meiner Großmutter ein letztes Mal zu und stieg ins Auto ein.
Das Auto rollte langsam aus der Einfahrt heraus und trat seine dreistündige Fahrt an. Mit der Zeit verschwanden die bekannten Ortsnamen und wechselten zu Städten, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich blickte aus dem Fenster und dachte über das nach, was jetzt alles auf mich zukommen würde. Die Erschöpfung der letzten Monate breitete sich mit einem Mal aus: Meine Augenlider fielen zu und ich glitt langsam in einen unruhigen Schlaf über.
DU LIEST GERADE
Briefe an Dich
Teen FictionVerschwindet jemand, wenn er stirbt, automatisch sofort aus dem Leben? Heißt Tod zwingend, dass man nie wieder von dieser Person hört, komplett auf sich allein gestellt ist und es so ist, als gäbe es diese Person nicht mehr? Doch was ist, wenn das n...