Kapitel 2

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"Katharina, wir sind fast da. Wach auf, Kleine." Langsam öffnete ich meine Augen und versuchte vergebens, mich an das helle Licht zu gewöhnen.

Ich sah aus dem Fenster und verstand nicht, wo ich war und wohin wir fuhren.

Kennt ihr diesen einen Moment nach dem Aufwachen, in dem man noch nicht realisiert, wo man ist und was man hier eigentlich macht? Man weiß nicht, was einen erwartet und womit man konfrontiert wird. Man sitzt einfach nur da und versucht, wieder Klarheit in seine Gedanken zu bringen.

Für einen kurzen Moment war ich nicht Katharina, die kurz davor war, ihre leibliche Mutter kennen zu lernen, und die den Tod ihres Vaters immer noch nicht verkraftet hatte. Ich war einfach nur ein Mädchen, das in einem Auto saß und aus dem Fenster blickte.

In diesen wenigen Sekunden ist man scheinbar zufrieden - keine Sorgen, keine Verpflichtungen und keine Angst. 

Man fühlt nichts und doch ist diese Leere seltsam friedlich und beruhigend. Für diesen kurzen Moment ist man glücklich und zufrieden.

Als ich dann das Ortsschild mit der Aufschrift "Staringen" sah, wurde mir wieder klar, dass wir in Kürze vor dem Haus meiner Mutter stehen würden - oder eher der Frau, die mich geboren hat.

Ich konnte mir vorher nur schwer vorstellen, wo sie leben würde - Ich kannte sie ja kaum. Unzählige Male habe ich mir alle möglichen Häuser und Wohnungen ausgemalt - in einem abgelegenen kleinen Dorf oder aber mitten in der Innenstadt - mit Mann und Kindern oder immer noch alleine - schick oder aber komplett heruntergekommen.

Ich war wirklich der Überzeugung, mit allem zu rechnen. Doch als ich das "Haus" sah, fiel mir die Kinnlade herunter und ich kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus: Niemals hätte ich damit gerechnet, dass sie in einer Villa wohnte! Das Gebäude war riesig und beim Näherkommen erschien es nur noch größer!

Wir rollten auf das Tor zu, Tobias Fensterscheibe senkte sich und er drückte auf den Knopf der Freisprechanlage. "Hallo Amanda, wir sind's." Nach einigem Schweigen fügte er verlegen hinzu: "Tobias, Corinna und Katharina."

Das Tor öffnete sich und wir fuhren die Einfahrt hinauf. Alles erschien so unglaublich! Ein riesiger Garten - sauber, gepflegt und mit einem kleinen Springbrunnen in der Mitte.

Wie viel Geld hatte diese Frau eigentlich? Wen hat sie wohl geheiratet, um so leben zu können? Kannte sie diesen Mann schon damals und hat uns deswegen verlassen?

Ich hatte nicht vor, sie mit all diesen Fragen zu nerven oder sie gar für irgendetwas zu beschuldigen. Ich habe eine glückliche Kindheit gehabt und konnte mich in keinster Weise beschweren. Mein Vater war ein unglaublicher Mann gewesen und hat mir jeden Tag gezeigt, wie sehr er mich liebte.

Bei ihr jetzt leben zu müssen, würde nichts daran ändern, dass sie für mich einfach nur eine Frau war, die mich zur Welt gebracht hat - eine Fremde. Ich kannte sogar unseren Postboten besser als sie und hatte nicht im geringsten die Absicht, ein großes Wiedersehensdrama zu veranstalten. Bei ihr zu wohnen, war lediglich Mittel zum Zweck. Ich hoffte, dass sie das ähnlich sah und nicht anfing, ein Mutter-Tochter-Ding daraus zu machen.

Trotz allem war ich neugierig - darauf, wie sie aussah, was für ein Mensch sie war und wie ihre Familie war. Ich kannte nur ihre Stimme von den gelegentlichen Telefonaten. Mein Vater hat immer gesagt, dass sie eine wunderschöne Frau sei und er nie verstanden hätte, warum sie sich auf ihn eingelassen hatte.

Als sie die Tür öffnete, verstand ich, was er meinte: Sie hatte lange blonde Haare, die in großen Wellen auf ihren Schultern lagen, ein wunderschönes Gesicht und strahlende blaue Augen - genau wie meine! Sie trug ein schwarzes Etuikleid mit halblangen Ärmeln und passende Pumps. Ihr dezenter silberner Schmuck sah teurer aus als unser ganzes Haus.

Mit einem höflichen, aber sichtbar aufgesetzten Lächeln begrüßte sie uns und bat uns hereinzutreten. "Hallo. Es freut mich, dass ihr gut angekommen seid. Kann ich euch etwas zu trinken anbieten? Sam, bitte kümmer dich um Katharinas Gepäck."

Sofort eilte ein Bediensteter zum Auto und begann, meine Taschen ins Haus zu tragen. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um mir meinen Schock nicht anmerken zu lassen. Sie hatte ihre eigenen Bediensteten! Ich begann mich wirklich zu fragen, womit ihr Mann so viel Geld verdiente.

Sie bat uns, doch ins Wohnzimmer zu kommen und unterhielt sich mit Corinna und Tobias, erkundigte sich über die Fahrt und dankte ihnen für ihre Unterstützung. All die Zeit hatte ich noch kein einziges Wort gesagt. Ich war einfach viel zu überrascht über all das hier und konnte einfach nicht fassen, dass ich hier in diesem Haus leben würde.

Nachdem sich Tante Corinna und Tobias verabschiedet haben, zeigte sie mir mein Zimmer. "Fühl dich wie zu Hause. Du kannst schon mal dein Gepäck in den Schränken verstauen und dir dein Zimmer etwas einrichten. Um sechs gibt es Abendessen."

Und damit verschwand sie auch schon wieder. Noch immer hatte ich noch nichts gesagt. In meinem Kopf schwebten alle möglichen Fragen umher, aber ich konnte einfach keine ganzen Sätze bilden. Das Haus, sie selbst und die ganze Situation schüchterten mich ein. Ich war eigentlich nie eingeschüchtert gewesen. Ich sagte immer direkt, was ich dachte und nach dem Tod meines Vaters war ich mir sicher, so stark geworden zu sein, dass mich nie wieder etwas erschüttern könnte.

Um nicht schon wieder an meinen Vater zu denken und mich etwas abzukenken, sah ich mich ein wenig im Zimmer um: An der Wand standen eine große, edle Kommode und ein Schminktisch mit einem Spiegel. Rechts daneben befand sich eine Tür, die zu einem begehbaren Kleiderschrank führte. Das Himmelbett, das fast das gesamte Zimmer einnahm, war ebenso wie alle anderen Möbel weiß und im Vintage-Stil gehalten. Ich hatte sogar einen direkten Anschluss zu meinem eigenen Badezimmer!

Ich setzte mich vorsichtig auf das sorgfältig arrangierte Bett, um keine Unordnung zu schaffen, und begann, meine Taschen eine nach der anderen zu öffnen und geeignete Plätze für die wenigen notwendigen Dinge, die ich mitgenommen habe, zu suchen.

Plötzlich vibrierte mein Handy:

Hey Kathy, 

wie geht's dir? Bist du schon abgekommen? Ist es so schlimm, wie du es befürchtet hast?

xoxo Emma

Ich konnte nicht anders, als zu lächeln. Wenn ich meine beste Freundin nicht hätte, würde es mir niemals so gut gehen wie jetzt. All die Zeit war sie für mich da gewesen und das schlimmste am Umzug war eigentlich, sie nicht mehr jeden Tag sehen zu können.

Hey,

es ist okay. Abgesehen davon, dass sie anscheinend Milliardärin ist! Ich trau mich nicht mal die Sachen in meinem Zimmer anzufassen. Wenn ich etwas kaputt machen würde, könnte ich es bestimmt mein Leben lang nicht zurückzahlen.

Vermiss dich jetzt schon, xoxo

Plötzlich hörte ich ein Klopfen an der Tür. "Ja?" "Miss Steiningen lässt zum Abendessen rufen. Herr Steiningen und ihre Tochter sind vor kurzem eingetroffen und erwarten Sie schon."

"Oh, okay, danke", stammelte ich verlegen. Noch nie hatte mich jemand mit "Sie" angesprochen und es war mir sichtlich unangenehm.

Augenblicklich war er wieder verschwunden und überließ mich meinem Schicksal. Ich atmete tief durch und stand vom Bett auf. Ich konnte das schaffen. So schwer würde es doch gar nicht werden. Ich bin stark - so wie es mein Vater immer gesagt hat.

Nervös schritt ich auf die Tür zu und ging langsam Richtung Esszimmer.

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