Kapitel 5

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Das Sekretariat war komplett leer - keine Menschenseele weit und breit. Zögernd sah ich mich etwas um, konnte aber niemanden finden. Ich sah noch einmal kurz in den Flur, musste aber enttäuscht feststellen, dass Josephine schon gegangen war.

Was soll ich jetzt bitte machen? Was weiß ich, wo ich hin muss. Ich kann ja kaum an jeder Tür klopfen und fragen, ob ich hier richtig bin oder nicht.

Arghhhhhh. Der Tag fängt ja gut an.

Plötzlich stürmte eine Frau mit mehreren Kisten auf dem Arm  in den Raum. Ihre roten Haare waren unordentlich zu einem Knoten zusammengebunden, einige Locken lagen ihr jedoch lose im Gesicht und versperrten ihr die Sicht. Ihre dunkelrot umrandete Brille war kurz davor, von ihrer Nase zu fallen und sie schien fast unter dem Gewicht der Kisten zusammenzubrechen.

"Äh.. du da. Ich kann dich nicht sehen, aber ähm kannst du mir vielleicht helfen? Bitte? Nur eine Kiste. Das wär schon eine unglaubliche Hilfe. Ich seh gar nicht, wohin ich geh."

"Klar."

Ich nahm ihr eine Kiste ab, sodass ihr Blick nun auf mein Gesicht fiel.

"Ach, dich kenn ich ja gar nicht. Bist du neu hier?"

"Um ehrlich zu sein, ja. Ich heiße Katharina Kerten und bin sechszehn Jahre alt. Könnten Sie mir vielleicht sagen, in welche Kurse ich heute muss?"

"Ach Katharina! Ja, von dir hab ich schon gehört. Deine Mutter hat mich vor ein paar Tagen angerufen. Tut mir wirklich Leid, dass du warten musstest, aber ich habe im Moment einfach so viel zu tun. Da weiß ich gar nicht, wo mir der Kopf steht."

"Kein Problem", antwortete ich lächelnd. Die Frau war mir mit ihrer chaotischen Art von Anfang an irgendwie sympathisch.

Sie lächelte ebenfalls - etwas verlegen, aber sie lächelte.

Gott tat es gut, endlich mal wieder freundliche Leute um sich zu haben.

Ich sah sie einige Sekunden wartend an, als sie plötzlich zusammenzuckte.

"Achja, die Kurse! Hab ich schon wieder ganz vergessen. Ich weiß wirklich nicht, was heute mit mir los ist. Tut mir echt Leid."

Mitleidig sah sie mich an, als sie ihre Schreibtischschubladen durchsuchte.

"Die müssen hier doch irgendwo sein. Ich könnte darauf wetten, dass ich sie hier direkt nach dem Telefonat reingelegt habe."

In der Zeit sah ich mich etwas im Raum um: Ihre Arbeitsfläche war mit Abdrücken ihrer Kaffeetasse übersät, auf dem Tisch lagen riesige Zettelstapel, die bei dem kleinsten Windhauch umzukippen drohten, und die Pin-Wände sahen aus, als würden sie unter der Last der Tausende an Aushängen bald zusammenbrechen.

"Da, ich hab's! Ich wusste es doch!"

Triumphierend hielt sie einige Zettel in die Luft und war sichtlich stolz, sich in ihrem Chaos trotzdem noch zurechtzufinden.

"Das ist dein Stundenplan. Du hast uns deinen Wahlbogen ja schon geschickt. Wir haben dich einfach jeweils zu den kleinsten Kursen zugeteilt. Tut mir nochmal wirklich Leid für alles. Normalerweise ist das hier alles viel organisierter. Das musst du mir glauben!"

Ich lachte kurz und bedankte mich für ihre Hilfe. Verlegen winkte sie mir zum Abschied zu und wünschte mir viel Spaß in der neuen Schule.

Am liebsten wär ich eigentlich einfach dort geblieben und hätte mich mit ihr etwas unterhalten. Sie schien wirklich nett zu sein und war dort komplett auf sich allein gestellt. Außerdem schien sie wirklich Hilfe zu gebrauchen. Vielleicht könnte ich ja mal in der Pause zu ihr und fragen, ob sie sie eine Aushilfe braucht? Ich hatte sowieso nichts zu tun und sie war die einzige Person, die ich hier bis jetzt kannte.

Ich sah auf meinen Stundenplan und stellte erleichtert fest, dass ich jetzt Englisch hatte. Gott sei Dank kein nicht sowas wie Physik, Geschichte oder Sport. Ich hatte sowieso nichts mit.

Ich ging die Flure auf und ab und versuchte nach Schildern oder Personen, die ich fragen könnte, Ausschau zu halten.

Sehr clever von mir mal wieder, dass ich nicht einfach die Frau vom Sekretariat gefragt habe. Aber jetzt bin ich schon so weit umher gegangen, dass ich wahrscheinlich nicht mal den Weg zurück finden würde.

Plötzlich sah ich, dass die Schilder mit A begonnen.

A22, A23, A24. Ah endlich A25! 

Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich vorsichtig an die Tür klopfte, und wartete.

Keine Panik, Kathy. Bleib einfach ruhig. Was ist schon dabei? Du kommst zwar mitten im Semester an eine neue Schule mit Leuten, die sich ein Leben lang schon kennen und stehst jetzt 15 Minuten nach Unterrichtsbeginn vor der Tür, aber was soll's. Daran bist du nicht selbst Schuld und ändern kannst du's jetzt sowieso nicht mehr. Also setz dein lässiges Lächeln auf und geh einfach in den Kurs, als würdest du hier schon jahrelang an die Schule gehen.

Als ich gerade damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, wie ich mich vorstellen sollte, um nicht wie ein kompletter Vollidiot dazustehen, wurde mir plötzlich die Tür geöffnet.

Briefe an DichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt