Kapitel 4

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Am nächsten Morgen wurde es nicht besser. Das Gefühl, alleine zu sein und nicht in seinem Zimmer aufzuwachen, beängstigte mich. Bei Corinna hat es sich immer angefühlt wie zu Hause.

Der süße Duft von warmem Kakao und Kaffee früh am Morgen, die unglaublich realistischen Autogeräusche meiner kleinen Cousins, die seit sechs Uhr morgens durchs Haus laufen, die Schritte all der vielen Leute im Haus - Man war nie alleine.

All das hat einen so gut von den letzten Geschehnissen abgelenkt. Und hier?

Totenstille.

Ich lag in dem kahlen, weißen Raum und konnte sogar meinen eigenen Atem hören.

Langsam stieg ich aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen ins Bad. Ich versuchte so wenig Geräusche wie möglich zu machen, weil ich das Gefühlt hatte, dass man jeden meiner Schritte im ganzen Haus hören konnte.

Nachdem ich mich geduscht und angezogen hatte, setzte ich mich wieder auf das Bett.

Und jetzt? Kommt der Mann jetzt jedes Mal, wenn ich zum Essen kommen soll? Schlafen alle noch oder warten sie schon auf mich? Aber dann hätte ich doch Schritte gehört.

Merkbar unwohl wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Einfach so in die Küche marschieren und nach etwas Essbarem suchen, konnte ich nicht. Ich wusste ja nicht mal, wo alles steht - geschweige denn, ob ich es überhaupt nehmen durfte oder nicht.

Ich wartete einige Minuten, bis ich endlich Schritte hörte.

Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich wär hier komplett allein.

Ein Glück, dass ich den Weg ins Esszimmer noch kannte, sonst wär ich komplett verloren. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie ich nach Amanda schreie, weil ich mich im Haus verirrt hatte. Das wär bestimmt ein perfekter Einstieg in den Tag.

Vorsichtig schritt ich um die Ecke und sah die drei wirklich schon am Esstisch sitzen. Wie haben sie es bitteschön geschafft, sich fertigzumachen und zu essen, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben? Diese Familie war wirklich Angst einflößend.

Markus nickte mir mal wieder nur kurz zu und las dann weiter in seiner Zeitung.

"Guten Morgen, Katharina. Hast du gut geschlafen?"

"Ja, das Bett ist wirklich gemütlich."

Zustimmend nickte sie vor sich hin, behielt aber dennoch wie immer ihre kalten, starren Gesichtsausdruck.

Ich frag  mich, wie sie auf ihrer Hochzeit ausgesehen hat. Es würde mich nicht wundern, wenn auf keinem einzigen Bild, ein Lächeln von ihr zu sehen war. War diese Frau überhaupt dazu fähig?

In Gedanken versunken schmierte ich mir ein Nutella-Brötchen, als ich plötzlich ein lautes Klirren hörte und zusammenzuckte. Mein Nutella beschmiertes Messer lag auf den blank glänzenden Fliesen.

Die nächsten Sekunden waren wahrscheinlich die längsten meines Lebens. Ängstlich hob ich mein Messer auf und versuchte das Desaster bestmöglichst mit meiner Serviette aufzuwischen.

"Sorry" war alles, was ich herausbrachte. Ich mein, es war nur ein Messer, aber ich traute mich trotzdem nicht, Amanda in die Augen zu sehen. Noch nie kam ich mir so unfähig und tollpatschig vor.

"Ist schon gut. Das Personal macht das schon wieder weg."

Ich nickte stillschweigend und aß in Zeitlupe, um bloß nicht noch einmal, etwas fallen zu lassen. Diese Frau konnte so unglaublich einschüchternd sein.

Nach dem Essen, holte ich schnell meine Jacke und eilte nach draußen. Markus und Josephine warteten schon im Auto.

Normalerweise saß ich bei Tobias immer auf dem Beifahrersitz, wenn er mich zur Schule fuhr - eine Angewohnheit, die ich seit meiner Kindheit hatte. Aber bei Markus traute ich mich nicht einmal, danach zu fragen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was dann passieren würde.

Ohne ein Wort zu sagen, setzte ich mich auf die Rückbank.

Während der Fahrt, sah ich die ganze Zeit aus dem Fenster. Ich versuchte mir den Weg zu merken, gab es nach ein paar Minuten aber auch schon wieder auf. Alle Straßen sahen so gleich aus: ordentlich hergerichtete und luxuriöse, weiße Villen.

Ich seufzte innerlich und lehnte mich an die Fensterscheibe.

Wie konnte es nur zu all dem kommen? Vor einigen Wochen war alles noch in bester Ordnung und jetzt sitze ich hier in einem polierten, schwarzen Sportwagen mit Menschen, die ich gestern das erste Mal in meinem Leben gesehen habe.

Ich vermisse die Leichtigkeit, die ich bei Corinna und Tobias empfand: dieses heimische Gefühl von Geborgenheit, das Radio, das ich auf dem Weg zur Schule immer auf volle Lautstärke anstellte und hemmungslos bei jedem Lied mitsang, die einfachen Gespräche, die man mit ihnen führen konnte. Ich hab echt nicht gedacht, dass ich Corinna und Tobias so schnell vermissen würde, aber im Moment wünsche ich mir nichts anderes, als wieder zurück nach Hause zu fahren.

"Katharina, wir sind da."

Plötzlich zuckte ich zusammen und sah um mich herum.

"Ich sagte: Wir sind da."

Nein, ich habe mich nicht verhört. Es war wirklich Markus, der das erste Mal mit mir gesprochen hatte.

Peinlich berührt murmelte ich ein "Tschuldigung" und stieg schnell aus dem Auto aus.

"Josephine wird dir alles zeigen. Um vier bin ich wieder hier."

Ich wunderte mich zwar, warum sich ein achtjähriges Mädchen in der Schule auskennt, traute mich aber nicht zu fragen und entschied, es Josephine später selbst zu fragen.

Nachdem Markus weggefahren ist, drehte ich mich zu Josephine um und sah sie fragend an.

"Ich hatte hier ein paar Auftritte mit dem Chor. Ich zeige dir, wo das Sekretariat ist und mus dann selbst zu meiner Schule."

Sie zeigte zu einem Gebäude, das nur einige Hundert Meter entfernt war.

"Oh, okay, danke."

 Sie ging auf den Haupteingang zu und ich fühlte mich minimal dämlich, sich die Schule von einem kleinen Grundschulmädchen zeigen lassen zu müssen. Insgeheim war ich aber unglaublich dankbar dafür, nicht alleine sein zu müssen.

Ich folgte ihr bis zur Sekretariatstür, bedankte mich und atmete ein letztes Mal tief durch, bevor ich kurz klopfte und die Tür öffnete.

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