Geteiltes Leid

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Was gibt es schöneres, als Familienfeste? Mir wären da spontan vielerlei Dinge eingefallen, die um einiges angenehmer wären und mehr Spaß machen würden, aber mich hatte ja keiner gefragt. Also saß ich, in meinem besten Sonntagsanzug, an einem der vielen Tische und wartete auf das Dessert. Meine Großeltern feierten ihre Diamanthochzeit und deshalb hatten sie die ganze Familie eingeladen. Und sie waren auch wirklich alle gekommen. Von manchen wusste ich nicht einmal, das sie Teil unserer Familie waren. Meine Großeltern saßen an einer etwas längeren Tafel und alle anderen Tische waren in mehreren Halbkreisen davor gestellt. Die beiden lächelten freudig darüber, das alle erschienen waren und sie wirkten so glücklich, als wären sie gerade frisch verliebt. Sechzig Jahre verheiratet sein, das war schon eine große Leistung. Nie hatte ich meine Großeltern streiten oder schlecht über einander reden gehört. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, mit ein und der selben Person sechzig Jahre lang verheiratet zu sein, denn meine längsten Beziehungen gingen gerade mal einen Monat und ich war froh, als sie wieder vorbei waren. Dafür hatten die beiden meinen Respekt.

Die Vorsuppe und den Hauptgang hatte ich inzwischen erfolgreich absolviert und ich hoffte, dass der Tag bald herum sein würde, denn von Stunde zu Stunde wurde mir langweiliger. Eigentlich wurde den ganzen Tag nur gegessen. Zwischen den Mahlzeiten gab es immer wieder kleine Reden und Glückwünsche für das glückliche Paar. Mal lustig. Mal peinlich. Ich blickte sehnsüchtig aus dem Fenster, dass sich gleich neben dem Tisch befand. Draußen war herrlicher Sonnenschein und ich konnte sehen, wie andere Familien auf der Wiese Picknick machten. Wie gerne wäre ich lieber im Freien. Doch ich hatte Verpflichtungen, so nannte es meine Mutter. Sie und mein Vater saßen neben mir und auf der anderen Seite irgendwelche Verwandten, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Ich begann zu gähnen, als ein Onkel von mir, die nächste Rede begann. Mahnend blickte meine Mutter zu mir.
„Wenn dir langweilig ist, dann versuche dich zu beschäftigen! Aber höre auf, uns zu blamieren!" Ich holte mein Handy heraus und suchte die Nummer von Theresa heraus. Sie war jemand, der ich immer schreiben konnte, wenn ich sie brauchte. Schnell tippte ich eine Nachricht. Die Antwort kam sofort.

Sie: Was los?
Ich: Ist verdammt langweilig hier. Lust zu schreiben.
Sie: Mit dir immer doch!
Ich: Hast du dir mal überlegt wie es ist 60 Jahre lang verheiratet zu sein?
Sie: Wenn mein Märchenprinz auftauchen würde, warum nicht ;)
Ich: Doch nicht einer auf einem weißen Pferd und mit Rüstung?
Sie: Warum nicht? Wenn er hübsch, klug und stark ist.

Das war also die Vorstellung eines 15-jährigen Mädchens von ihrem Traumprinz. Sie suchte nach einem Jungen, den es niemals geben wird. Mädchen.

Sie: Und wie müsste deine Traumfrau sein?
Ich: Am besten wie Jennifer Lawrence. <3
Sie: Du steckst deine Ziele aber auch nicht besonders tief :P
Ich: Bei meinem Aussehen.
Sie: Du Angeber.

Die Menge lachte, also schien mein Onkel irgendetwas lustiges gesagt zu haben, was ich mir aber nicht vorstellen konnte, denn wenn mein Onkel eines nicht war, dann war es lustig.

Sie: Ich finde es schön, wenn man sich so lange liebt.
Ich: Habs noch nicht ausprobiert.
Sie: Aber, das ist doch wichtig. Man kann alles teilen. Sorgen. Ängste. Leid.
Ich: Da brauch ich niemand dafür. Hab doch dich ;)
Sie: Und was machst du, wenn ich mal nicht mehr da bin?

Warum mussten Mädchen ab irgendeinen Punkt immer so emotional werden? Ich überlegte kurz was ich ihr antworten könnte. Bei Mädchen musste man immer genau darauf achten, was und wie man es schrieb. Mein Handy piepte wieder.

Sie: Was los? Finger eingeschlafen? ;) :P

Jetzt bloß keinen Fehler machen. Schnell tippte ich meine Antwort und hoffte, dass ich die richtigen Worte gewählt hatte.

Ich: Ich hoffe das du noch lange für mich da sein kannst!
Sie: Das ist so süß von dir!
Ich: Was würde ich nur ohne dich tun!
Ich: Du bist gerade echt meine Rettung.
Sie: Mache ich doch gerne.

Mein Onkel war endlich fertig mit seiner Rede und nahm unter großem Applaus wieder platz. Und endlich kam auch das Dessert. Kirschtorte.
„Mit wem schreibst du eigentlich die ganze Zeit?" fragte mich meine Mutter, während sie mit einer kleinen Kuchengabel, die Kirschen aus der Torte herausholte und sie fein säuberlich am Tellerrand aufstapelte. Sie hasste Kirschen, da sie immer Angst hatte, eine mit Kern zu erwischen und darauf zu beißen.
„Mit Theresa." antwortete ich nur knapp, ohne von meinem Handy aufzusehen. Hätte ich es getan, dann hätte ich sehen können, wie sie ihre Kuchengabel zur Seite legte und mich mit tiefgezogenen Augenbrauen ansah.
„Das ist doch nicht dein ernst!" Am Klang der Stimme konnte ich hören, dass es nun doch besser war, meinen Blick vom Display zu lösen. Noch bevor ich irgendetwas erwidern konnte, nahm sie mir das Handy aus der Hand. „Los geh zu ihr, wenn du mit ihr reden willst!" raunte sie mich an und schüttelte den Kopf. „Sie sitz doch nur zwei Tische von uns entfernt."


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