Genervt rückte Thea wieder ihre Brille zurecht. Heute war mal wieder einer dieser Tage, der kein Ende nehmen wollte. Zum wiederholten Male verscheuchte sie zwei Kinder, welche zwischen den vollgepackten Kleiderständern Fange spielten. Noch im letzten Moment griff sie nach einem der metallenen Ungetümen, bevor er drohte umzustürzen. Mahnend blickte sie zu den beiden Jungen, während sie die Kleidungstücke aufhob, die sich von den Bügeln gelöst hatten. Gleich darauf kam aus irgendeiner Ecke des Ladens „Justin, David! Seit bitte nicht so ungestüm!" von einer der Mütter, die sich gerade im Shopping-Rausch befanden. Doch die zwei scherten sich nicht wirklich darum und fuhren mit ihrem Spiel fort, wobei sie auch weiterhin eine kleine Spur der Verwüstung hinterließen. Ein ganz normaler Arbeitstag im Leben einer Verkäuferin. Thea seufzte und machte sich daran, das kleine Chaos wieder zu beseitigen.
„Ich will nicht mehr!" sagte sie niedergeschlagen, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Die letzte Stunde hatte Thea damit verbracht, die achtlos zurückgelassenen Kleidungsstücke in den Umkleidekabinen wieder an ihre zugehörigen Plätze zu verteilen, eine ältere Dame davon abzuhalten, das bauchfreie Top für sich zu kaufen, erneut damit zu kämpfen, das ein Bekleidungsgeschäft gerne von Kindern als Spielplatz genutzt wird, während sie auf ihre Eltern warteten und eine junge Dame beim Diebstahl erwischt. Aber was das allerschlimmste war: Das Ende ihrer Schicht war noch lange nicht in Sicht. Sabine, ihre Arbeitskollegin und beste Freundin, klopfte ihr ermunternd auf die Schulter. „Du hast es ja auch bald geschafft."
„Du hast gut Reden, da hast ja gleich Feierabend. Aber darum geht es mir nicht. Ich will ans Meer. An mein Meeeeeeer!" Sie zog das letzte Meer mit Absicht besonders lang und klang dadurch wie ein bockiges Kind, das bei seinen Eltern um einen Lutscher bettelte. Sabine steckte gerade ein sonnenblumengelbes Sommerkleid in eine der Einkaufstaschen und überreichte sie der Kundin. „Und viel Spaß damit!" verabschiedete sie die junge Dame, die mit glänzenden Augen das Geschäft wieder verließ. „Wann hast du denn Urlaub?" fragte Sabine ihre Freundin, die nun geknickt auf der Ladentheke lümmelte, das Kinn auf die Hände aufgestützt.
„In zwei Monaten." seufzte Thea und verbarg ihr Gesicht in den Armen.
„Auch das geht vorbei. Wahrscheinlich schneller, als du denkst." versuchte Sabine sie zu ermutigen.
„Vorher werde ich sicherlich an Sehnsucht sterben!" kam es trotzig unter den Haaren hervor, die wie eine Decke ihr Gesicht verbargen.
„Damit musst du leider noch etwas warten. Da kommen gerade ein paar Kundinnen, die sich sicherlich darauf freuen, von dir bedient zu werden." Thea hatte gerade das Gefühl, selbst von ihrer besten Freundin nicht ernst genommen zu werden. Sie seufzte noch einmal enttäuscht, richtete sich das Haar wieder, mit der Hilfe des Spiegels, der sich hinter der Kasse an der Wand befand, setzte ihr strahlendestes Lächeln auf und machte sich wieder an die Arbeit. „Schönen guten Tag. Kann ich ihnen vielleicht helfen ..."„... und noch einen schönen Abend!" Geschafft. Das war die letzte Kundin. Zufrieden verschloss Thea die Eingangstür des Geschäftes und machte sich daran aufzuräumen. Erst jetzt entdeckte sie eine kleine Schachtel mit ihrem Namen, die gleich neben der Kasse stand. Am Deckel, befestigt mit einem großen Schleifenband, befand sich ein kleines Schildchen. Thea erkannte sofort die Handschrift ihrer Freundin, die in großen geschwungenen Buchstaben beide Seiten beschrieben hatte. Auf der Vorderseite standen nur die zwei Worte „Mare Apertum", während auf der Rückseite „Wenn du es ans Ohr hältst, dann ist das Meer ganz nah!" stand. Neugierig löste sie die Schleife, öffnete die Box und faltete das Einpackpapier auseinander. Ein handgroßes Gehäuse einer Meeresschnecke kam zum Vorschein. Thea war entzückt und entschuldigte sich gedanklich bei ihrer Freundin. Behutsam nahm sie die Meeresschnecke aus der Schachtel und hielt sie sich ans Ohr. Ein glückliches Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit.
Schon mit ihren Eltern fuhr sie immer in den Sommerferien ans Meer. Für sie als Kind war es das Paradies auf Erden und das war bis heute so geblieben. Jeden Urlaub verbrachte sie dort, selbst wenn es nur für ein paar Tage war. Wenn es ihr schlecht ging, dann bekam sie sofort Sehnsucht nach ihrem Lieblingsort. Denn kein anderer Platz auf der Welt half ihr so gut, sich wieder mit positiven Energien aufzuladen und Abstand vom stressigen Arbeitsalltag zu bekommen. Thea liebte das Meer über alles, da war ihr auch das Wetter egal, das manchmal genauso wechselhaft und launisch wie sie selbst war. Denn am Meer gab es nie schlechtes Wetter, sondern nur die falsche Kleidung dafür, sagte ihr Vater immer. Und er hatte recht. Das Meer hatte stets seine eigene Schönheit, egal ob es windstill war und die Sonne sich in den leichten Wellen spiegelte, oder der Wind peitschte und das Wasser wild über das Ufer spritze. Sie konnte immer am Strand sitzen und hinaus auf den Horizont blicken.
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Kurzgeschichten - Kleine Geschichten für zwischendurch
Short StoryKleine Geschichten aus dem Alltag, über die Liebe und Beziehungen, über das Leben und andere Dinge, die mich bewegen oder, die ich selbst erlebt habe. Mal witzig, mal nachdenklich, mal zum Träumen. Platz #103 15.03.2017 Platz #75 17.03.2017 # 47 in...