kapietel 4

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Bzzzt.
„Stegi, dein Handy."
Alter, ich kann jetzt nicht! Wer auch immer das ist - „Der soll mal chillen jetzt", überlege ich laut, klinge ziemlich hektisch und versuche die Übersicht auf dem Fernseher nicht zu verlieren.
Ich drehe wie ein Irrer den Steuerstick herum - knall' den Einen ab und
tot.
„Hä-?", gebe ich - mal wieder sehr geistreich - von mir und sehe in der Abschusskamera noch meinen Feind herum laufen.
„Ich hab' doch gesagt, die kommen von rechts", lacht Tobi mich aus und lehnt sich ein Stück vor. Ooh, er strengt sich mal an. Naja im Gegensatz zu mir ist er aber auch immer noch gut, wenn er sich mal nicht anstrengt.
„Ach 'n Scheiß kommen die von rechts! .. Und jetzt wieder diese übertriebene Respawnzeit! Das ist doch-", beginne ich mich aufzuregen und werde dann unterbrochen, weil mein Handy schon wieder vibriert. Zum vierten Mal, also scheint derjenige, der mich dauernd versucht zu erreichen, es wohl ernst zu meinen.
„Lächerlich?", entgegnet Tobi und ich sehe kichernd auf mein Display. Nach unseren vier Stunden Spielzeit weiß er jetzt auch, dass ich das Wort gern benutze.
Und warum ruft mich jetzt Tim an!
„Nummer gegen Kummer, Seelsorger Stegi, was kann ich für dich tun?", gehe ich grinsend an mein Handy und spiele an den grauen Fusseln der Couch herum.
„Sorry, dass ich euch störe, aber deine Schlange kriecht hier frei 'rum." Oh, ich hab' wohl doch ziemlich genervt geklungen. Was ruft er mich auch an, er weiß genau, dass ich bei Tobi bin. Moment - meine Schlange?
„Wie, meine Schlange kriecht frei rum?"
„Die liegt hier im Gang und zischt mich an."
Verwirrt blinzle ich ein paar Mal. Wie ist die bitte aus ihrem Terrarium raus gekommen?
„Stegi", mahnt mich Tobi knapp von der Seite und ich sehe, dass ich wieder im Spiel bin.
„Du Idiot! Was hast du mit ihr gemacht?", frage ich Tim entrüstet und kneife mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, damit ich wieder an den Controller kann. Ich höre noch vage das „Gar nichts" von Tim, dann seufze ich entnervt und laut, weil ich direkt gestorben bin. „GG" - Danke Tobi!
Das Handy nehme ich wieder in die Hand und ich lehne mich zurück, da ich jetzt eh nicht mehr respawnen kann. „Ja, keine Panik. Die ist friedlich. Geh' einfach hin und selbst wenn sie dich beißt, sie ist nicht giftig und dann kannst du sie anfassen."
Kurz rede ich mit Tobi, der es irgendwie doch noch geschafft hat das Spiel umzudrehen und zu gewinnen und währenddessen kann ich hören, dass Tim ziemlich angepisst sein muss. „Alter, ich geh' gleich zu dir, beiß' dich und fass' dich dann an. Komm gefälligst her!" Ookay, er ist definitiv angepisst. Trotzdem muss ich lachen.
„Ach Junge! Ist ja gut du Schisser, bin gleich da. Bis dann", verabschiede ich mich noch und höre Tim nur leise „Jaja" murmeln, bevor ich die rote Schaltfläche drücke. Mein Grinsen muss furchtbar dämlich aussehen, denn Tobi sieht mich fragend an.
Hja. Tobi - was soll ich sagen. Weil heute Feiertag ist, sitze ich jetzt schon den ganzen Nachmittag bei ihm und wir zocken. Anfangs war ich noch übel aufgeregt, aber jetzt? Ich kann mich echt nicht beschweren, denn ich habe sehr wohl Spaß und er ist echt ein guter Freund, aber.. eben das ist das Problem. Ein Freund. Und das drücke ich nicht so aus, weil er meine Gefühle nicht erwidert, sondern weil ich meine Gefühle wohl etwas überschätzt habe - was an sich kein Problem wäre, weil er, glaube ich, nichts von mir will.
Aber da wär' noch die Sache mit Tim. Und irgendwo auch der Gedanke, dass Tim der Grund dafür sein könnte, dass ich nun doch nichts von Tobi will. Aber das ist Unsinn.
„Ich muss heim, Tim macht sich in die Hose weil meine Schlange irgendwie frei gekommen ist."

Wenige Minuten später trotte ich neben Tobi auf dem Gehweg her. War eigentlich gar nicht geplant, dass er mitkommt, aber - wie man schon an dem Board unter seinem linken Arm erkennen kann - er trifft sich später eh mit Freunden beim Skatepark und der liegt in meiner Richtung.
Liegt nahe, dass er dann die restliche Stunde noch mit zu mir kommt und wir da weiterzocken. Kein Plan was genau, wir spielen ja auch nicht seit Stunden dasselbe, aber ich genieße seine Anwesenheit so oder so. Nur nicht auf die Art, wie ich es tun sollte.
Meinen Schlüssel hab' ich auch vergessen, bemerk' ich gerade.
Nebensächlich drücke ich auf den Klingelknopf meines Hauses und sehe zu Tobi, der die Gegend begutachtet. Wie bring' ich das Tim bei? Und vor allem - wenn das bei Tobi keine Liebe war, was war dann das gestern bei Tim? Ich unterdrück' mir ein Seufzen. Unsinn, der Kerl hat mir seinen Dödel entgegen gehalten, dass das nicht ganz an mir vorbei zieht, ist ja wohl normal - auch wenn ich alle möglichen Gefühle und Gedanken an den gestrigen Abend noch immer erfolgreich verdränge. Aber nachdem ich einen Monat lang dem Kerl hinterher gesehen habe, ist da jetzt überhaupt nichts? Nicht mal 'n Funken von Liebe oder so 'n Scheiß? Ich meine, ich bin immer noch der Meinung, dass er jetzt nicht schlecht aussieht. Dass er echt sympathisch ist, dass sein Lächeln richtig nett und schön ist, aber ich hab' irgendwie nicht mehr so das Bedürfnis, mich ihm um den Hals zu werfen. So richtig krass hatte ich ja nie Gefühle, aber ich dachte ja auch eigentlich, dass die dann erst kommen, wenn ich ihn richtig kennen lerne. Immerhin ist er der Grund, warum ich mir überhaupt erst bewusst wurde, dass ich vielleicht auch auf Kerle stehe! Ich war mir zwar nie sicher, aber nach der Aktion von Tim dachte ich eigentlich, dass die Frage geklärt ist. Blöd nur, dass ich immer noch nicht abgeneigt vom gestrigen Abend bin.
Die Tür geht auf und reißt mich aus den Gedanken. Tim sieht zuerst mich, dann verwundert Tobi an. Ja Tim, ich kann auch Freunde haben.
„Wo ist denn das große böse Monster?", frage ich und klinge dabei absichtlich als würde ich mich mit einem Kleinkind unterhalten, während ich mich an ihm vorbei ins Haus dränge. Tim murmelt irgendwas vom Bad und schließt dann die Tür hinter Tobi. Indessen gehe ich schon die Treppen hoch und frage mich noch einmal - wie ist sie da bitte hingekommen?
Sie zischt mich auch nicht mal an, als ich auf sie zugehe und sie vorsichtig hochhebe, also was ist Tim für 'n Lappen? Die Frage wird mir beantwortet, sobald ich mich umdrehe, denn mein Stiefbruder steht nicht weit hinter mir und meine Schlange dreht halb am Rad bei seinem Anblick.
„Siehst du? Ich mache gar nichts", verteidigt sich Tim und stellt sich an den Rand des Gangs, damit ich zu meinem Zimmer kann. „Die weiß halt, dass du 'n Idiot bist", erwidere ich ungewollt kichernd und trage sie zurück zu ihrem - liebevoll eingerichteten - Terrarium.
„Und du hast nicht irgendwie zufällig aufgemacht?", frage ich nochmal nach, weil ich hören kann, dass mir nicht nur Tobi gefolgt ist. „Hä? Nein, natürlich nicht. Glaubst du ich wollte sie mir mal eben anschauen oder was?" Wenigstens klingt er nicht mehr ganz so genervt. Inzwischen schleicht sich wieder sein belustigter Unterton in seine Stimme.
„Ja keine Ahnung. Wie ist sie denn dann rausgekommen? Und außerdem wär sie's schon wert, angeschaut zu werden", meckere ich noch ein wenig und schließe den Glaskasten sorgfältig wieder. Hab' ich echt nicht richtig zugemacht? Das wär die einzige Möglichkeit.
Tim brummt nur etwas unstimmig über den hinteren Teil meines Satzes und ich werfe ihm einen giftigen Blick zu.
„Musst du nicht noch staubsaugen?" Jetzt ernte ich zum ersten Mal auch 'nen bösen Blick von ihm und muss sofort lachen. Den Kerl kann man einfach nicht ernst nehmen! Tim seufzt, holt sich den Staubsauger aus einem Schrank aus meinem Zimmer und haut dann ab.
„Was'n Lappen", kichere ich noch und schalte meinen Fernseher an, Tobi lässt sich auf die Couch fallen.
Gott, Tobi - Warum ausgerechnet da hin?
„Ist er deine persönliche Putzfrau?" Delfinlache. Muss das andauernd sein? Langsam geht mir das Lachen selbst auf'n Sack. „Hat ihm meine Mutter gestern aufgedreht."
Unbewusst lege ich wieder Gears of War ein, lasse mich dann neben Tobi auf's Sofa plumpsen und drücke ihm den Controller in die Hand. Nach einiger Zeit, in der wir nicht viel miteinander reden, durchbricht Tobi das Schweigen.
„Weißt du, warum Tim mich so hasst?", fragt er plötzlich, was mich ganz schön verwirrt. „Wie kommst du drauf?"
„Unten an der Tür hat er mir schon wieder so 'nen Killerblick abgegeben. So hat er mich schon angesehen, als er mit Veni zum ersten Mal gesprochen hat und ich gesagt hab', wer ich bin", meint er abwesend, hat aber immer noch eine Tonlage, als würde er es lustig finden. Ist so 'ne kleine Besonderheit an ihm, irgendwie.
Ich grummle nur irgendwas vor mich hin, ich versteh's selbst nicht. Aber es hat auch nichts mit mir zu tun, weil er damals noch gar nicht wusste, dass ich Tobi kennen lernen wollte.
Ich lehne meinen Kopf an die Couchlehne und mir kommt Tobi auf einmal so vertraut vor, dass ich ihm folgende Information zumute. „Eigentlich hat er versucht dich mit mir zu verkuppeln."
Zu spät fällt mir ein, dass ich leise sprechen sollte, aber macht nichts, weil Tim eh unten steht und staubsaugt. „Wie jetzt?", lacht Tobi und dreht den Kopf zu mir, sodass ich in seine fragenden hellblauen Augen sehe. Sie sind ja schön und sein Lächeln auch, aber.. es ist jetzt nicht so, als ob ich Herzrasen oder Schmetterlinge im Bauch oder sonst irgendeinen Dreck bekomme.
„Ach keine Ahnung", seufze ich und sehe auf den Bildschirm, weil eine neue Runde beginnt.
„Ich würde ja jetzt raten, dass du dich in mich verknallt hast und er versucht hat, dir zu helfen, aber dann macht's keinen Sinn, dass du mir das einfach so sagst", antwortet er schließlich und lehnt sich auch zurück. Seine entspannte Körperhaltung verliert er schon mal nicht, was mich wieder etwas beruhigt. Ja, er wollte mir helfen. Wie selbstlos und barmherzig Tim doch ist.
„War auch so. Irgendwie", versuche ich mich zu rechtfertigen und zieh' die Augenbrauen leicht zusammen. Das ist ein scheiß Spiel um über so was zu reden.
Tobi lacht, hat wohl verstanden, dass es jetzt nicht mehr so ist. „Und warum erzählst du mir das jetzt?"
Berechtigte Frage! Nur weiß ich selbst irgendwie keine richtige Antwort darauf. Vielleicht, weil ich einfach mal mit jemand anderem als dem Idioten Tim über so was reden will.
„Und was geht eigentlich zwischen dir und Tim?"
Meine Finger versteifen sich automatisch, ich sterbe fast im Spiel und räuspere mich. „Was soll da sein?", frage ich entgegen und höre wie nasal meine Stimme klingt. Woher auf einmal die Aufregung? Er kann nicht wissen, was genau zwischen uns läuft, also brauche ich nicht gleich panisch werden.
„Wegen der Sache beim Basketballplatz. Das war schon irgendwie kitschig", gibt er nebensächlich von sich und konzentriert sich mehr auf den Fernseher als auf unser Gespräch. Zum Glück - sonst würde er merken, dass ich gerade nervös werde.
„Ach jo. Das war doch einfach nur nett", ich gebe zu, wenn ich nicht ich wäre, würde ich mir gerade selber nicht glauben. „Oder hätt' ich da mehr reininterpretieren sollen?", hänge ich nach einer kurzen Pause noch kleinlaut an.
Tobi scheint immer noch nicht sonderlich aufgeregt wegen dem Thema zu sein - dafür hab' ich genug Aufregung für uns beide. „Das frag' ich doch dich", schmunzelt er, „Aber schon gut, geht mich nichts an. Wenn du nicht drüber reden willst-" „Ich bin ja schon tot", unterbreche ich ihn überrascht und er fängt an zu kichern. „Sauber Stegi. Das bist du schon seit ich das Thema 'Tim' angefangen hab'."
„Hä? Laber nich'!" Das habe ich nicht einmal bemerkt? War ich echt so neben der Spur? Tobi seufzt einfach nur. „Du hast aber immer noch versucht den NPC zu steuern. Gut gemacht", lobt mich der Arsch dann und ich drehe den Controller in meiner Hand. „Oh." Ich bin heute wieder so wortgewandt!
„Ja, ich weiß einfach nicht, was ich von dem Idioten halten soll", lenke ich zurück auf unser Hauptthema, das Tobi gerade ganz schön zu überfordern scheint. Er sieht auf jeden Fall so aus, als könne er damit gerade überhaupt nichts anfangen. Ich weiß selbst nicht mal, wieso wir jetzt so ein 'intimes' Gespräch haben, obwohl ich ihn noch nicht wirklich lange kenne. Aber irgendwie kommt's mir fast so vor, als wären wir halt einfach schon ewig gute Freunde. Gute Freunde, dass ich nicht lache. Scheiße man, wie bring' ich das Tim bei?
„Äh.. und wie fühlst du dich, wenn er in deiner Nähe ist?" Er ist definitiv überfordert. Was ist das denn für eine bescheuerte Frage! Wohl angemerkt bin ich gerade nicht derjenige, der versucht die Schlacht zu gewinnen, aber ich bin schon viel zu sehr in dem Thema aufgeblüht.
„Wie soll ich mich denn fühlen! Ich meine, wir haben uns ja sogar schon mal geküsst-" Ups. Das war jetzt nicht ganz so geplant. Ich dachte immer, das wäre nur so 'n schlechtes Klischee aus Geschichten, dass einem sowas rausrutschen kann. „Ja dann!", winkt Tobi ironisch ab und ich versuche ihm zwischen verschiedenen Kicherern zu erklären, dass das keinem romantischen Weg entsprochen hat. Ich muss ihm ja nicht gleich erzählen, was zwischen uns abgeht.
Wenigstens höre ich Tim unten immer noch staubsaugen und herumtrampeln - und Tobi hinterfragt das auch nicht wirklich. Könnte auch daran liegen, dass er immer noch in game ist.
„Oh Gott. Okay", fängt Tobi erschöpft vom Multitasken an und zieht seine Augenbrauen etwas zusammen. „Und wie.. hast du dich dann bei eurem Kuss gefühlt?" Er klingt einfach richtig, als würde ich ihn mit einem Thema volllabern, dass ihn nicht interessiert. Wie bei so einem alten Ehepaar, bei dem die Frau mehr redet als dem Mann lieb ist. Is' mir egal. Ich hab' irgendwie das Gefühl, er nimmt es mir nicht ernsthaft übel.
Mein Blick geht etwas runter, auf den Boden. Wie hat sich der Kuss angefühlt?
Eigentlich ganz okay. Atemberaubend. Naja - es war ein Kuss. Ein leidenschaftlicher noch dazu. Und ein Kuss fühlt sich eben nicht schlecht an. Zumindest rede ich mir das so ein.
Selbes sage ich auch Tobi, dass sich doch jeder Kuss gleich anfühlt, wenn man nicht gerade zuvor große Gefühle für die Person gehegt hat. Dass der von Tim unfassbar geil war, lass' ich mal weg und die Knutscherei von gestern übergehe ich dabei auch.
Tobi wirft mir nur kurz einen Blick zu, dann stöhnt er genervt und pausiert das Spiel. Er dreht seinen Kopf zu mir und atmet hörbar aus. „Wenn ich dich jetzt küsse und du mir sagen kannst, ob bei Tim mehr dabei war, lässt du mich dann die Runde fertig zocken?" Er lächelt zwar nicht, aber es deutet sich in seinem Gesicht an und auch in seiner Stimme, deswegen mache ich mir keine Sorgen, dass ich ihn gerade zu Tode nerve.
„Als ob das Spiel jetzt so wichtig ist du Faggot", beleidige ich ihn spaßhalber und bringe ihn damit auch wieder zum Grinsen.
Dann wackelt mein Lächeln, bricht etwas ein. Okay? Von der Treppe her ertönt Lärm, aber ich ignoriere es. Tobi rückt vorsichtig ein Stück näher, ich gebe einen etwas zu hellen Laut von mir und das lockert die Stimmung dann wieder etwas auf. Ich sehe in sein Gesicht, sein Grinsen, seine hellblauen Augen. Nichts.
Wir sind uns gefährlich nahe und der Moment ist irgendwie sehr viel unangenehmer, wenn man ihn so langsam angeht. Unsere Lippen berühren sich fast.
Und dann kracht's.
Nicht zwischen uns - aber bei der Tür, weil Tim den Staubsauger gegen den Türrahmen boxt.
Erschrocken drehe ich mich zu Tim, der mich verwirrt ansieht - Tobi dreht den Kopf nach vorne weg und verkneift sich mit aller Kraft das Lachen, wittert dann aber seine Chance und fängt sofort an, seine Runde weiter zu zocken.
Tim deutet an, wieder zu gehen, aber ich verdrehe die Augen und winke ihn rein. Jetzt wäre es auch schon egal, Tim. Wenn er mir gerade wirklich den ersten Kuss versaut hätte, würde ich ihn jetzt ohne Zweifel hassen. Aber irgendwie wundert mich, dass ihm das jetzt anscheinend echt leid tut, zumindest weicht er meinem Blick aus. Und das macht er sonst nie.
Sobald Tim wieder die Treppen runter trampelt, seufze ich entnervt und sehe Tobi zu, wie er aufsteht und etwas deprimiert guckt, weil er beim Spiel doch noch verloren hat. „Scheiße gelaufen, würde ich mal sagen", meint er dann noch mit seinem typischen belustigten Unterton in der Stimme, obwohl er nicht einmal lächelt.
„Nein! Das war perfekt, jetzt kann ich ihm die Schuld daran geben."
Er lacht und ich muss auch anfangen zu kichern. Oh man. Der Kerl ist echt ein guter Freund - ohne Scheiß. Ich bin jetzt froh, ihn kennen gelernt zu haben. Mit Sturmwaffel kann man über so was einfach nicht reden, allein schon, weil er halt einfach nicht versteht, wie man auf Typen stehen kann. Hab' ich ja früher auch nicht. Mir fällt aber jetzt erst auf, dass ich mich gar nicht darüber gewundert hab', dass Tobi mich einfach so abgeknutscht hätte. Oder dass er generell so locker mit dem Thema umgegangen ist. Lel - sag mal sind hier in der Nähe alle schwul?
„Ich muss jetzt eh gehen", meint er noch und ich stehe langsam auf, während er inne hält und mich zögernd ansieht - was ich etwas scheu erwidere. Er seufzt unterdrückt, dann macht er einen schnellen Schritt auf mich zu und umgeht damit den peinlichen Moment, den, bevor sich unsere Lippen treffen.
Ich bleibe stehen wie ein Brett. Es ist so anders, so sanft und vorsichtig, dass ich damit schon gar nichts mehr anfangen kann. Ich blinzle ein paar Mal verwirrt, bin mir nicht mal sicher, ob er merkt, dass ich erwidere. Tim hat mir gar keine Wahl gelassen, als auf seine Leidenschaft einzugehen - und hier fühl' ich mich nun wie bei meinem ersten Kuss.
Tobi löst sich aber recht schnell wieder von mir, zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich an. „Äh.. Und?", fragt er und klemmt sich sein Board wieder unter den Arm. Und? Nichts und, fürchte ich. Ich brumme etwas unschlüssig und er versteht, was ich meine. Toll, jetzt bin ich noch verwirrter als zuvor. Warum dann bei Tim? Ich schieb's innerlich darauf, dass er dominanter vorgeht und belasse es auch erst mal dabei. Haha, all die Aufregung und Fragen die letzten Wochen, alles nur dafür. Dass ich jetzt erkenne, dass ich überreagiert hab'. Bravo Stegi, GG.
„Das bleibt aber unter uns", murmelt Tobi grinsend und schließt seine Jacke. „Wer darf's denn nicht erfahren?", harke ich anzüglich nach, bewirke damit aber nur, dass sein Lächeln stirbt. Nice, Stegi!
„Warte, ich geh' noch mit zur Tür" - „Nein, bleib hier."
Ich gucke ziemlich doof, Tobi dagegen zuckt leicht mit den Schultern. „Dann sieht's so aus, als würde ich nach dem versemmelten Kuss hier die Flucht ergreifen. Also setz' dich irgendwo hin und flenn' 'n bisschen", lacht er und - ich muss schon zugeben - er kann sehr viel hinterhältiger sein als ich dachte.
„Bis morgen dann", sagt er noch und verschwindet, ich lasse mich wieder auf die Couch fallen.
Noch ein paar mehr solcher Tage und ich dreh' durch. Ich habe nicht mal viel Zeit zum Nachdenken, denn kurz nachdem die Haustür ins Schloss fällt, kann ich hören, dass Tim wieder die Treppe hoch stapft.
Jetzt bloß nichts falsch machen!
Sobald ich höre, dass er im Türrahmen stehen bleibt, sehe ich ihn kurz an, dann wende ich mich ab und fange an, die Controller wieder weg zu räumen. Wenigstens bekomme ich auch mal was hin. Zumindest kann ich mir gut vorstellen, dass das jetzt so wirkt, als würde ich nichts von ihm wissen wollen.
„Sorry?" Warum muss er jetzt bitte so klingen, als ob es ihm wirklich leid tut? Dem ist das doch eh egal.
Ich drehe mich zu ihm um, kann nicht anders und meine Mundwinkel zucken kurz zum Lächeln. Ich schaffe es aber, genug Sarkasmus in meine Stimme zu legen, „Kein Ding Tim. War ja auch nicht so wichtig."
Dann kommt mir doch ein kurzes Lachen aus. „Du bist ein Idiot, weißt du das? Was musst du auch mit deinem Staubsauger hier rein trampeln wie so'n Elefant."
Tim sieht halb betroffen, halb belustigt aus. Ach Junge, wieso kann ich auf ihn nicht auch mal sauer sein? Ich kann ihm einfach nichts übel nehmen, wie er jetzt so dasteht und kein' Plan hat, was er tun soll.
„Ich will dein Buch lesen", fordere ich dann etwas leiser als Entschädigung ein, klinge fast schon als ob ich schmollen würde, denn bisher hat er es mir immer weggezogen. 'Nichts für kleine Kinder' hat der Spast nur immer gesagt.
„Meinetwegen", gibt Tim widerwillig nach und sieht sehr viel weniger begeistert aus als ich, denn ich wühle mir sofort das Ding aus seinem Schrank und mache mich damit auf der Couch breit.
Tim sieht mich noch eine Weile an, dann meint er, dass er noch in seinem Zimmer die Wand fertig streicht und zieht ab. Interessiert mich doch nicht, was er macht.
Ich schlage das Buch auf. Ob er nicht Hilfe gebrauchen könnte? Alter, ernsthaft? Oder einfach nur Gesellschaft? Entnervt klappe ich das Buch wieder zu. Dazu würde ich heute wohl nicht mehr kommen, aber egal, denn jetzt muss ich es nicht mehr heimlich lesen.
Ich grinse leicht bei dem Gedanken. Tim muss nicht wissen, dass ich schon längst angefangen hab' zu lesen. Ich ziehe mir noch schnell eins der älteren Shirts über und gehe dann auch in Richtung von Tims zukünftigen Zimmer. Eins muss man ihm lassen - er hat keinen schlechten Geschmack, was Bücher angeht.
Ich sehe die entspannend tiefenblaue Wand an, die zur Hälfte noch weiß ist. Und auch nicht was Zimmerfarben angeht.
„Ich wusste nicht, dass du so schnell lesen kannst", und ich könnte ihn schon wieder schlagen dafür, dass er bei so einer behinderten Frage so ernst klingen kann. Ich gebe ein künstliches, gespieltes Lachen von mir und schnappe mir dann einen der dünneren Pinsel, die noch im Eimer auf ihren Nutzen warten.
Male damit ein paar mal in der Luft herum und dann
quer über Tims Rücken.
Er zuckt zusammen - ich kichere wie ein Vollspast. Bevor ich reagieren kann, hab ich seinen Roller im Gesicht und - naja. Ich glaube man kann sich denken, worauf das Ganze hinausläuft.
Zu Ende war der Spaß, als Tims Dad frisch von der Arbeit durch die Tür kommt und sich den Fortschritt des Zimmers ansehen will. Die Wand ist zwar etwas blauer geworden - wir zwei aber auch.
„Jungs!", mahnt er, als ob er uns gleich eine Standpauke halten will, fängt dann aber doch an zu schmunzeln. „Ab ins Bad mit euch, bevor der Hausdrache euch sieht."
Wow, eine nettere Umschreibung für meine Mutter hätte ich auch nicht finden können.
Tim fährt sich die farbverschmierten Haare aus dem Gesicht, während ich schon los tappe, weil ich weiß, dass ich mich so wirklich nicht bei meiner Mutter blicken lassen sollte.
Im Bad angekommen inspiziere ich mich erst einmal im Spiegel. Toll, ich darf mir die Haare waschen. Trotzdem grinse ich immer noch, als hätte ich 'nen Zwang. Mein Shirt kann ich gleich wegschmeißen, das ist nicht mehr zu retten.
Und während ich dann schließlich meine Haare etwas trocken reibe, kommt Tim plötzlich rein, macht die Tür zu und fängt an sich komplett auszuziehen. Ich bekomm' erst mal den Schock meines Lebens, GG.
Ich sehe ihn etwas irritiert an, was er erwidert und sich dabei das Shirt über den Kopf zieht. „Was? Ich geh' duschen", lacht er und wirft seine Ersatzklamotten, die er sich noch geholt hat, über den Badewannenrand, bevor er in die Kabine steigt.
„Kannst ja mitkommen", zwinkert er mir dann noch nicht ganz so ironisch zu, wie es normal wäre und mich überkommt schon wieder so ein komisches, hitziges Gefühl. Mich selbst beruhigend drehe ich meinen Blick ab. „Unsere Eltern sind da draußen und ich weiß ja nicht wie's dir geht, aber ich finde, die müssen davon nichts wissen", fange ich an und muss schon wieder mein Lachen zurückhalten, weil 'unsere Eltern' jetzt echt falsch klingt. „Und außerdem hast du es dir heute alles andere als verdient, Tim."
Ich höre ihn seufzen, dann das Wasser aufdrehen. Okay, er ist kein so großer Sturkopf wie ich.
Ich hänge das Handtuch wieder über eine der Stangen, bis mir dann auffällt, dass meine nun blaue Hose im Wäschekorb liegt, mein Shirt im Müll und ich ungerne in Boxershorts jetzt quer durch's Haus rennen würde.
Ohne groß darüber nachzudenken, schnappe ich mir einfach Tims Shirt, das mir eh zu groß ist und verlasse dann so das Bad. Soll'er doch oberkörperfrei gehen, macht er ja sowieso gerne.
Ich schließe die Badtür und bekomme das Bedürfnis, wieder rein zu gehen. Nein, Stegi.
Alter. Ich verdränge erfolgreich den Gedanken, dass ich gerade zu Tim unter die Dusche gehen wollte und mache mich auf den Weg in mein Zimmer. Schniefe kurz. Schlaf kann mir jetzt echt nicht schaden, sonst passiert heute noch irgendwas, das ich später bereuen würde. Ich spür's richtig, weil die Beziehung zu Tim langsam ziemlich komisch wird. Ich sollte ihn hassen, ihn abstoßend finden, oder mich einfach nur unwohl in seiner Nähe fühlen, nach der Aktion von gestern. Irgendwie scheint mein Hirn aber noch nicht ganz realisiert zu haben, zu was mich der Kerl gebracht hat und erzeugt nur die ganze Zeit so 'ne komische Aufregung.
Einfach nicht drüber nachdenken. Ich versteh's ja eh nicht.
Ich lege mich in mein Bett, rutsche dann unfreiwillig noch ein Stück zur Seite, damit Tim mich nicht wieder davon schiebt und aufweckt. Blöder Tim. Jetzt erst schlägt mir sein Geruch entgegen, der sein Shirt nicht gerade unauffällig umgibt. Heiliger, riecht er gut. Das ist mir noch nie so aufgefallen, wie jetzt gerade.
Ich glaube es wäre besser, wenn ich mir noch das Shirt wechsle, kommt wahrscheinlich komisch, wenn ich mit seinem hier liege. Aber ich hab' Bock mich weiter von dem Geruch einlullen zu lassen und außerdem liege ich gerade schon so bequem. Die Decke liegt über mir - also erkennt er eh nicht, dass ich seins an hab'.
Stimmt nicht - aber ich bin zu müde um das zu kapieren.

Ich bekomme auch nicht mehr wirklich mit, wie sich dann Tim schmunzelnd zu mir legt und trotz des vielen Platzes verdammt nahe bei mir .

Dein Wille geschehe #stexpert Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt