Winter

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Ich ging die Straße hinunter. Es schneite und bei jedem Schritt hörte ich den Schnee unter meinen Füßen knirschen. Ich suchte einen Platz, wo ich es mir gemütlich machen konnte, so gut es eben ging. Schließlich musste ich dort ein paar Stunden ausharren. Die kalte Luft stieß mir ständig ins Gesicht und Schneeflocken verirrten sich in meine Augen. Meine Hände spürte ich schon lange nicht mehr. Ich konnte von Glück reden, dass ich vor einem Monat eine noch relativ heile Wollmütze gefunden hatte. Meine alte wäre bei dem Schneesturm vermutlich keine große Hilfe gewesen.

Schließlich blieb ich vor einem kleinen Laden stehen. Über dem Schaufenster war eine Markise, die der Inhaber des Ladens offensichtlich vergessen hatte zu schließen. Gut für mich, dann würde ich wenigstens nicht sehr viel von dem Schnee abbekommen. Neugierig sah ich ins Schaufenster hinein. Es war ein Juwelier, ich erkannte viele goldene und silberne Ringe. Der Laden war dunkel, aber es war ja auch Sonntag. Was mich wunderte war, dass am Fenster keinerlei Sicherungen waren, man konnte leicht einbrechen. Und dabei sind Einbrüche in dieser Gegend wirklich keine Seltenheit.

Ich sah, wie sich die Warme Luft meines Atems am Schaufenster beschlug. Dort drinnen war es bestimmt wärmer, dachte ich während meine Zähne unaufhörlich aufeinanderklapperten. Ich hatte noch nie einen Einbruch begangen, auch an meinen schlimmsten Tagen nicht. Aber es gab aber auch schon Tage, wo ich kurz davor gewesen war und mich in letzter Sekunde noch zurückgehalten hatte. Hätte ich es getan, wäre ich nun wahrscheinlich in einer noch schlechteren Lage als jetzt. Ich ging einen Schritt vom Schaufenster weg und nahm seufzend die Decke, die ich unter meinem Arm geklemmt hatte in die rechte Hand. In der linken hatte ich eine Dose in der noch gestern mein Mittagessen gewesen war. Ich legte die Dose auf den Boden ab und breitete die Decke auf dem Boden aus. Sie hatte schon einige Löcher und Flicken, aber sie war besser als gar nichts. Wenn man obdachlos ist darf man nicht wählerisch sein. Ich setzte mich auf die Decke, mit dem Rücken zum Schaufenster und nahm die Dose an mich. Trotz der Decke spürte ich die Kälte und vor allem die Härte des Bodens, aber daran war ich schon gewöhnt. Die Dose tat ich direkt vor mich, denn wenn ich sie in der Hand halten würde, würden die Leute kein Geld hinein werfen. So nah geht man ja schließlich nicht an Obdachlose.

Ich lehnte meinen Kopf an das Schaufenster und schloss die Augen. Früher, als ich noch bei meinen Eltern lebte, habe ich den Winter geliebt. Ich habe es geliebt Schneemänner zu bauen. Schneeengel zu machen. Mit meinen Eltern und Freunden Schneeballschlachten zu veranstalten. Von der Küche aus die Schneeflocken beobachten, mit einer Tasse heißer Schokolade in der Hand. Doch im Verlauf der Jahre wurde der Winter mein größter Erzfeind. Es war kalt draußen, krank zu werden gleicht einer Katastrophe, man kann nichts tun um warm zu werden. Für Sport war ich zu schwach. Und dann gab es natürlich noch das Problem mit den Menschen. Großzügig waren sie so gut wie nie, aber im Winter war es besonders schlimm. Weniger Menschen waren draußen, immer waren sie hektisch, da keiner bei dem Wetter lange draußen bleiben wollte und das Geld ging meistens auf Weihnachtsgeschenke drauf. Und natürlich die Sache mit Reggie.

Reggie war auch ein Obdachloser, allerdings mit etwas, das sonst keiner in der Gegend hatte: Eine Gitarre. Und da ich, bevor ich auf der Straße landete, viele Jahre Gitarre spielte, borgte ich sie mir gelegentlich aus. Mit Musik verdiente man natürlich viel mehr, als durch rumsitzen und "Bitte, ich habe Hunger" vor sich hin zu murmeln. Die Summe, die ich verdiente teilten wir uns dann immer auf. Aber im Winter war er viel seltener da, als im Sommer, was ich natürlich vollkommen nachvollziehen konnte. Reggie ging es viel besser, als den meisten von uns. Das sollte nicht heißen, dass es ihm gut ging, aber immerhin kam er schneller an Geld. Heute war wieder ein Reggie-loser Tag. Er war vor drei Wochen das letzte Mal hier gewesen. Manchmal hatte ich Angst, dass er weiter gezogen wäre. Auch jetzt war es wieder so.

Ich öffnete wieder meine Augen. Die Lieder fühlten sich schwer an. Ich wusste nicht, wann ich das letzte mal richtig gut geschlafen hatte. Auch wenn ich keine metallische Geräusche gehört hatte, sah ich hoffnungsvoll in meine Dose. Hin und wieder verirrte sich nämlich auch noch ein Schein darin. Doch sie war leer. Es war schon Mittagszeit, die Zeit wo am meisten Menschen hier herum liefen. Was im Winter ungefähr eine handvoll Menschen war.

Erst jetzt bemerkte ich, dass auf der anderen Straßenseite, fast mir gegenüber Fred saß. Fred hatte ich einiges zu verdanken. Vor einigen Jahren hatte er mich auf genommen und sein letztes Hab und Gut mit mir geteilt. Wir lebten gemeinsam mit drei weiteren Leuten unter einer Autobahnbrücke, die allerdings zum Glück an diese Straße grenzte. Ich winkte Fred zu, doch er sah mich nicht. Er hatte den Kopf gesenkt. Ein Mann lief gerade an ihm vorbei, ohne auch nur kurz hinunterzugucken. Aber sowas waren wir ja schon gewöhnt.


Als ich ein paar Stunden später immer noch nicht genug für Essen beisamen hatte, beschloss ich mich dazu die Straße entlang zu gehen und Leute direkt anzusprechen. Ich machte es zwar nicht gerne, aber wenn das stundenlange sitzen nichts brachte, ging es nun mal nicht anders. Ich faltete die Decke wieder zusammen und steckte sie mir unter dem Arm. Ich sah auf die andere Straßenseite. Fred saß immer noch dort. "Hey, Fred! Wie lange machst du noch?", rief ich zu ihm rüber. "Noch ein bisschen! Ich hab's fast!", rief er zurück. Ich rekte als Antwort den Daumen in die Höhe. "Was ist mit dir? Hast du genug?", fragte er mich. "Nein, ich werde jetzt die Straße abgehen.", antwortete ich. "Viel Glück!", rief er mir zu. Dann machte ich mich auf.

Ich lief an vielen Geschäften und vielen Menschen vorbei. Ein bisschen was hatte ich sogar bekommen, aber ausreichend war es immer noch nicht. Es begann bereits zu dämmern und mein Magen knurrte wie verrückt. Eine Frau, ungefähr Mitte dreißig, kam auf mich zu. An der Hand hielt sie ein kleines Kind, kaum älter als fünf Jahre. Ich musste an mich und meine Mutter denken. Als wir ein Mal an einem obdachlosem Mann vorbei gingen fragte ich sie: "Was macht der Mann da auf dem Boden?" Meine Mutter sagte mir: "Beachte ihn einfach nicht. Er will nur Geld haben." Ich sah zu ihr hinauf. Ihre Haare fielen ihr wie immer wellig über die Schulter und die Sonne ließ sie erstrahlen. Als sie zu mir hinunter sah lächelte sie mich an: "Versprich mir, dass du dich von solchen Leuten fernhälst. Ignoriere sie einfach." Und ich hatte natürlich zugestimmt. Damals war das Wort der Mutter schließlich heilig. Doch nun war ich von genau diesen Menschen abhängig.

Als sie schon fast an mir vorbeigegangen waren fragte das Mädchen: "Was machst du da mit der Dose?" Sie war stehen geblieben und blickte mit ihren großen, runden Augen zu mir empor. Ihre Mutter schien genervt, sagte aber nichts. "Ich sammel Geld, kleines. Damit ich mir etwas zu essen kaufen kann.", sagte ich so freundlich wie es ging. "Hast du denn keine Mami, die das erledigt?", fragte sie mich. Ach, hätte ich nur eine."Nein, meine Mami ist leider nicht da, um mir Essen zu kaufen." Nun wirkten die Augen des Kindes... traurig. Die Mutter fing an an der Hand ihres Kindes zu zerren: "Komm Liebes, lass uns weiter.", sagte sie freundlich, aber mit einem energischem Unterton. "Aber Mami, sie kann doch nicht ohne Essen bleiben!", rief die Kleine empört. Ich lächelte. Kleine Kinder waren einfach nur goldig. Die Mutter seufzte. Dann holte sie ihr Portmonee aus ihrer Tasse und tat mir etwas Kleingeld in die Dose. "Vielen Dank!", sagte ich ehrlich. "Ich hoffe deine Mami kommt bald wieder, damit sie dir wieder Essen kaufen kann!", rief das Mädchen noch, bevor ihre Mutter sie endgültig wegzerrte. "Ich hoffe das auch.", log ich. Meine Mutter würde nie wieder zurück kehren.

Ich sah in meine Dose. Das Geld reichte. Ich drehte mich um und ging in Richtung Supermarkt.

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