"Sollte ich bei diesem Wetter wirklich baden gehen? Ich mein - was ist, wenn ich krank werde?", fragte ich noch ein letztes Mal Fred, während dieser mich sanft, aber bestimmt, aus dem Lager schob. "Josie, Schätzchen, nimm es nicht persönlich, aber du stinkst wie Sau.", sagte er und rümpfte sich die Nase. "Ach, und du nicht oder was?", fragte ich ihn und zog meine Augenbrauen nach oben. "Ich bin ein alter Mann, ich muss nicht unbedingt baden." Er grinste, während er das sagte. Ich seufzte. "Also gut, ich gehe ja schon.", sagte ich und stapfte missmutig davon. "Bleib nicht zu lange weg!", rief Fred mir noch hinterher.
Das Handtuch hatte ich mir über meine verschränkten Arme gelegt. Es brachte zwar nur sehr wenig, es zu benutzen und ich konnte nur hoffen, dass ich nicht krank werden würde. Falls das passieren sollte, konnte Fred aber was erleben!
Es schneite zwar nicht, aber es war sehr kalt. Es hatte in der Nacht wieder geschneit und obwohl heute nicht mehr viel von dem Schnee übrig war, hatte sich die Temperatur kaum verändert. Ich fröstelte alleine bei dem Gedanken daran im See baden zu müssen.
Ich ging gerade an einer Seitengasse vorbei und aus den Augenwinkeln sah ich einen Mann in der Gasse stehen.
Nach vorne sehen, nach vorne sehen, nach vorne sehen.
In dieser Gegend war es keine Seltenheit, dass junge Mädchen doof angesprochen wurden. Mir war es auch schon passiert.
Ich war noch nicht sehr lange obdachlos, also ungefähr dreizehn Jahre alt, als ich an einer Seitengasse vorbei lief. Ich war hungrig und verzweifelt, ich sah jedem Menschen in die Augen, in der Hoffnung, dass sie meine Verzweiflung sehen würden. Und das tat ich auch bei diesem Mann. Diesem Mann in der Seitengasse. Und es war einer der größten Fehler die ich je begangen hatte. "Na, hast du hunger?", fragte er mit einem ekelhaftem Grinsen auf dem Gesicht. Und ich hatte genickt. Ich war zu erschöpft, um klar zu denken. "Ich könnte dir etwas geben.", sagte er. Mein Gesicht hellte sich sofort auf. "Unter einer Bedingung." Ich hätte es getan. Ich hätte alles getan damals. Aber nicht das. "Die wäre?", fragte ich. "Komm mit, ich zeig es dir.", sagte er und machte eine einladende Handbewegung. Und ich folgte. Ohne Gehirn oder einem Fünkchen Verstand folgte ich. In der Gasse war es dunkel und ich konnte nicht viel sehen. Doch dann spürte ich eine Hand auf meinem Hintern. Sofort drehte ich mich um und sah den Mann schockiert an. "Was soll das?", fragte ich ihn. "Ach komm, ich weiß doch, dass du alles für Essen tun würdest, du kleine Schlampe!", rief er packte noch ein mal zu. Und da war mein Verstand wieder da. "Ich tue einen Scheißdreck, du Arschloch!", rief ich, schlug ihm seine Hand weg und rannte. Rannte einfach los, ohne Plan wohin. Tränen liefen mir die Wangen herunter und ich atmete schwer, doch ich rannte und rannte und rannte. Auch wenn er mir nicht näher gekommen war als das, war ich traumatisiert. Seitdem hatte ich nie wieder in eine Seitengasse geblickt. Und seitdem wusste ich auch, dass so etwas wie Sicherheit nicht mehr in meinem Leben existierte.
Mit eiligen Schritten lief ich weiter. Ich wollte mich nicht mehr an solche Dinge erinnern. An die schlimmen Dinge aus meiner Vergangenheit. Und dennoch konnte ich es nicht abstellen.
Im Park entschied ich mich dazu einen kleinen Spaziergang zu machen, bevor ich duschen gehen würde. Um ehrlich zu sein wollte ich nur Zeit verschwenden. Vielleicht würde es ja noch etwas wärmer werden. Ich ließ meinen Blick durch den Park gleiten. Die Äste hingen trostlos im Himmel, die Blätter fehlten. Irgendwie sahen die Bäume... lustlos aus. Verzweifelt. Traurig. Sei sahen so aus, wie ich mich im Inneren fühlte, doch es niemandem preisgab. Ich musste stark sein. Für Fred und die anderen. Sie brauchten mich. Ich atmete tief durch bevor ich energisch weiter lief.
Ich bin stark.
Sehr stark.
"Josie!", hörte ich plötzlich jemanden rufen. Diese Stimme... War das nicht?
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Straßenkind
Teen FictionJosie hat schon ganz vergessen, was das Wort "leicht" für eine Bedeutung hat. Als obdachlose streift sie schon seit Jahren durch die Straßen und versucht sich am Leben zu halten, doch immer wieder wird sie von der Härte des Überlebens getroffen: Ess...