"...und ich sag's euch, die hat mich angeguckt, als wäre ich von'nem anderen Planeten!", beendete Fred seine Geschichte und wir brachen alle in schallendes Gelächter aus. Dann herrschte paar Sekunden Stille, da jeder mit seinem Essen beschäftigt war.
In der Mitte unseres Lagers hatten wir so eine Art Lagerfeuer, wo wir jeden Tag gemeinsam dran saßen und unser Essen in uns hineinschaufelten. Oft erzählten wir uns dabei Geschichten aus unserem früheren Leben oder der Zeit, bevor wir zusammen lebten. Fred war der große Geschichtenerzähler unter uns, egal ob seine Geschichten nun lustig oder traurig waren. Am wenigsten von uns erzählte David, aber das war, weil er meistens sowieso nicht bei uns war mit den Gedanken.
David ist Drogensüchtig und ist vor ungefähr einem Jahr erst auf der Straße gelandet. Sein Geld ist nur noch auf Drogen gegangen - er verlor seinen Job und nach dem seine Eltern ihm den Geldhahn zudrehten, verlor er auch seine Wohnung. Zu seinen Eltern wollte er nicht. Warum wussten wir nicht, er redete nicht gerne über seine Vergangenheit. Eigentlich sollte er aus seinen Fehlern gelernt haben, aber David ist noch weit davon entfernt clean zu werden. Wie er übrigens an Drogen kam war uns allen ein Rätsel.
Ich sah zu Leila, die sich gerade erhob und ihre leere Dose auf dem Boden abstellte. Sie ging zu unserer provisorischen Wäscheleine, wo ein paar trockenen Klamotten von uns hingen. Vorsichtig hob sie die wenige Kleidung herunter, darauf achtend, dass die Wäscheleine heil blieb. Wir hatten Stunden gebraucht diese bescheuerte Leine zu befestigen. Ein Bügeleisen hatten wir leider nicht, daher fing Leila an die Klamotten auf unsere Matratze zu legen, nachdem sie die liebevoll gefaltet hatte.
Leila war schon hier, als ich mich Fred gesellte. Ihr Mann hatte sie geschlagen und misshandelt, daher war sie vor einigen Jahren abgehauen. Wir fragten sie, warum sie nicht zu ihren Eltern oder anderen Verwandten gelaufen war. Sie sagte, dass ihre Hochzeit eine Art Zwangsheirat war und ihre Eltern ihr nicht glauben würden, auch wenn sie ihnen die Narben zeigen würde, die sie nun durch ihn trug. Leila war über die Jahre so etwas wie eine Mutter für mich geworden, auch wenn sie gar nicht so viele Jahre älter als ich war. Ich war siebzehn, sie sechsundzwanzig. Sie kümmerte sich hier darum, dass alles richtig lief. Sie kümmerte sich darum, dass wir so gut es ging, wie richtige Menschen mit einem zu Hause leben konnten. Leila hatte ein großes Herz, welches ihr in der Vergangenheit leider oft zum Verhängnis wurde. Aber ich liebte sie dafür umso mehr.
Bill räusperte sich: "Ich steh' jetzt mal auf." Er erhob sich und ließ seine Dose genau wie Leila stehen. Heute war ich schließlich dran mit aufräumen. Bill ging rüber zu Fred und klopfte ihm auf die Schulter. "Gute Geschichte Freddie.", sagte er bevor er sich abwandte.
Mit Bill und Fred hat diese kleine Gemeinschaft hier angefangen: Bill und Fred hatten sich eines Tages getroffen und diesen Ort gefunden. Einige Jahre hatten sie alleine hier gelebt und wurden zu besten Freunden. Sogar Reggie hatte hier mal gelebt, bis er einen besseren Ort fand. Später kam Leila, dann ich und als letztes David dazu. Noch jemand, und es würde unter unserer Brücke ein wenig eng werden.
Bill ist vor vielen, vielen Jahren auf der Straße gelandet. Zwar ist er nicht so lange obdachlos wie Fred, aber schon fast so lange obdachlos, wie ich lebe. Sein Grund war fast wie der von David, nur das Bill ein Alkoholproblem hatte. Allerdings hatte Bill keine Eltern mehr, da er mit relativ hohem Alter obdachlos wurde, also hatte er keinen Ort zum bleiben.
Fred war wie ein Vater für mich, Leila wie eine Mutter, Bill wie ein Onkel und David wie ein Bruder. Zusammen waren wir eine Familie, auch wenn wir unter etwas komischen Umständen zusammengekommen waren. Aber ohne diese Menschen... ohne diese Menschen wäre ich heute vermutlich tot.
Als auch Fred und David fertig mit ihrem Essen waren und sich nun mit ihren Dingen beschäftigten, saß ich alleine am Feuer. Ich sah in meine Dose. War da vielleicht noch was kleines drin? Fehlanzeige. Ich musste zugeben, dass ich das wirklich nicht lecker fand. Aber was anderes wäre uns einfach zu teuer, und so bekommen wir wenigstens etwas halbwegs ordentliches in den Magen. Seufzend stand ich auf, ging um das Feuer herum und stapelte die Dosen aufeinander. Dann begab ich mich zu der Mülltonne, die vom Feuer aus in der hinteren Ecke rechts war. Bye, bye, liebe Dosen, dachte ich, als ich sie hineinfallen ließ.
DU LIEST GERADE
Straßenkind
Teen FictionJosie hat schon ganz vergessen, was das Wort "leicht" für eine Bedeutung hat. Als obdachlose streift sie schon seit Jahren durch die Straßen und versucht sich am Leben zu halten, doch immer wieder wird sie von der Härte des Überlebens getroffen: Ess...