Meine Hände waren schon fast erfroren, als ich das letzte Oberteil in den See tauchte. Heute war ich dran mit Wäsche wachen. Die schon gewaschenen Sachen lagen in unserem provisorischem Korb neben mir auf dem Boden. Eigentlich war es ein Einkaufskorb aus dem Supermarkt, aber da wir keinen Wäschekorb hatten, benutzten wir einfach ihn.
Ich zog das Oberteil aus dem Wasser. Es gehörte David. Es war dunkelblau und hatte einst einen weißen Aufdruck der allerdings abblätterte. Ich hielt das T-Shirt gen Himmel, um zu sehen, ob der Fleck verschwunden war. David hatte gestern mal wieder gekotzt. Aber nein, natürlich war er noch zu sehen, neben den anderen unzähligen Kotz-Flecken. Immerhin stank es nicht mehr so sehr. Ich legte das T-Shirt zu den anderen Klamotten in den Korb und richtete mich auf.
Vorsichtig bewegte ich meine schmerzenden Finger. Als ich wieder einigermaßen etwas anderes als Schmerz in ihnen spürte, beugte ich mich herunter, griff nach dem Korb und verließ die Stelle am See. Morgen würde ich hier wieder herkommen müssen, zum duschen.
Mit eiligen Schritten verließ ich den Park, in dem der See liegt und machte mich auf dem Weg zu unserer Straße.
Der Park war nicht gut besucht, nur hier und da lief mal ein Jogger oder ein Pärchen neben mir entlang. Ich fühlte mich immer unwohl mit einem Einkaufskorb voller nasser Wäsche durch den Park zu latschen.
Menschen merkten es nicht immer, aber sie starren. Auch wenn sie es eigentlich nicht wollten, sie starren, bis ihnen fast die Augen aus dem Kopf fallen.
Ja, das ist meine Lebensweise.
Ja, es ist hart.
Ja, ich merke, wie ihr mich anglotzt.
Doch heute wurde ich zum Glück in Ruhe gelassen.
Raus aus dem Park wurde ich direkt in eine belebte Straße gerissen. Menschen, dick, dünn, jung, alt, hektisch, gelassen, ins Telefon schreiend oder mit der Freundin tratschend liefen an mir vorbei. Hier und da guckte ein Neugieriger auf meinen Korb. Doch auf vollen Straßen wurde man nicht sehr lange angestarrt, da man sich weiter bewegen musste. Man wurde mitgerissen von dem Strom der Menschen, der sich vorwärts bewegte.
Bei der nächsten Abbiegung drehte ich mich nach rechts - und sofort war die Menschenmasse verschwunden. In unserer Straße herrschte beinahe Totenstille.
Und hier wiederum sollte ich angestarrt werden. Die Menschen sollte sehen, wie schwer ich es doch hatte und Mitleid mit mir haben. Sie sollten mich unterstützen. Doch leider blieb letzteres viel zu oft aus. Stattdessen beschwerte man sich über uns. Dass wir ja unmöglich wären. Dass wir in der Gesellschaft eine Schande wären.
Ich spürte wie meine Hände sich verkrampften, als ich mal wieder daran dachte, wie unfair man doch auf dieser Welt behandelt wurde.
Nicht alle Menschen sind so Josie, nicht alle, versuchte ich mir einzureden.
Es gibt auch Menschen mit Herz. Menschen mit Verständnis. Sie sind da, da draußen, irgendwo verstreut.
Und ab und zu verirren sie sich hierher. In diese Straße. In mein zu Hause.
Wie Mark. Mark war so ein Mensch. Mit Verständnis und Herz.
Mein Griff lockerte sich wieder und ich atmete tief durch. Ich musste einfach positiv denken. Dann wurde das schon.
Ich blieb stehen, verlagerte den Korb so, dass ich ihn nur noch mit einer Hand festhielt und ließ meine andere Hand in meine Hosentasche gleiten. Er war immer noch da. Mein Glücks-Penny. Ich wusste, dass es egoistisch war, ihn in Zeiten wie diesen zu behalten. Doch irgendetwas in mir wollte diesen Penny für immer für sich behalten. Mir war lange etwas nicht mehr so wichtig gewesen.
Das letzte Mal, als ich mich an etwas, das mir gehörte festklammerte, war als ich acht war. Ich war neu im Waisenhaus und schon da mochte ich diesen Ort überhaupt nicht. Es war mein Teddy, Mr. Knuffels, den ich so krankhaft behalten wollte. Meine Eltern hatten ihn mir zum sechsten Geburtstag geschenkt und neben meinen Eltern und meiner Gitarre, war er mein bester Freund und Beschützter. Als im Waisenhaus meine Eltern wegfielen und ich die Gitarre nur an bestimmten Zeiten spielen konnte, bleib mir nur Mr. Knuffels übrig. Wie oft ich doch mein Gesicht in seinen dicken Bauch gedrückt hatte, während mir die Tränen über die Wangen liefen. Wie oft ich doch in seinen weichen Magen meine ganze Wut und Enttäuschung raus geschrien hatte. Wie oft ich ihn doch vor mir platziert und mit ihm über meinen Kummer gesprochen hatte.
Auch als ich obdachlos wurde hatte ich ihn noch. Er war das einzige, was ich noch von früher besaß. Vor vier Jahren wurde er gestohlen.
Ich schüttelte mich bei der Erinnerung daran. Nein. Ich würde das nicht mit meinem Penny passieren lassen, dachte ich entschlossen.
Ich bog wieder nach rechts, rein in unser Lager, unter die Brücke.
"Josie! Da bist du ja wieder!", sagte Leila und ging auf mich zu, um den Korb abzunehmen. Ich wich einen Schritt zurück: "Lass es Leila! Ich mach das schon selber.", sagte ich bestimmt. Leila erwiderte: "Josie, gib mir die Wäsche und du gehst etwas essen. Wir haben alle schon gegessen, du brauchst eine Stärkung." Ich schüttelte den Kopf: "Ich kann ja auch essen nach dem ich die Wäsche aufgehängt habe.", sagte ich, umrundete Leila und ging auf unsere Wäscheleine zu. "Wie du willst.", sagte Leila seufzend.
Vor der Leine setzte ich den Korb ab.
Leila wäre definitiv einer der Menschen der obdachlosen Geld geben würde. Sie glaubt an die Gerechtigkeit und sie erzählte, dass sie, bevor sie obdachlos wurde, sogar bei Aktionen für Unterstützung obdachloser Menschen teilgenommen hatte.
Bei den anderen wäre ich mir nicht so sicher. David und Bill würden vermutlich einfach weitergehen. Und Fred... Ich wollte gerade eine Hose aufhängen, doch ich hielt in meiner Bewegung inne. Was würde Fred tun?
Gedankenverloren hing ich die Hose auf. Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung.
Und dann stellte sich eine ganz andere Frage in meinen Kopf: Was würde ich tun? Würde ich einfach ihnen Geld geben? Oder würde ich vorbeilaufen? Würde ich starren? Oder würde ich angestrengt versuchen nach vorne zu blicken?
"Josie, du pennst ja fast im Stehen!", sagte plötzlich Bill lachend und riss mich somit aus den Gedanken. Ich schüttelte den Kopf und setzte ein künstliches Lächeln auf.
"Hey, ist alles okay?", fragte Bill und stand plötzlich neben mir. "Alles in Ordnung. Ich bin nur sehr müde.", sagte ich. Stimmte ja auch. "Weißt du was, ich übernehme ab hier. Du gehst jetzt schön essen. Du brauchst eine Stärkung.", sagte Bill und schob mich Richtung des "Lagerfeuers".
"Aber Bill, heute bin ich..."
"Schhhht... Du bist jetzt still und isst etwas. Ich mache das schon, keine Sorge.", sagte er, zwinkerte mir zu und ging wieder zu der Wäscheleine.
Gut, vielleicht hatte ich mich geirrt. Vielleicht würde Bill obdachlosen Menschen auch helfen.
Seufzende griff ich nach der Dose, die neben meinem Stuhl lag und öffnete diese. Der Löffel, der direkt neben der Dose lag, nahm ich in die Hand und versenkte ihn in dem halbwegs leckerem Brei. Ich hielt die Dose vorsichtig über das Feuer.
Aus den Augenwinkeln sah ich Fred auf seiner Matratze schlafen. Sein Gesicht war verzogen und er wandte sich die ganze Zeit hin und her. Er hatte einen Albtraum, wie sooft. Er sagte, er würde seine Frau sehen, immer und immer wieder. Sie starb. In jedem Traum auf eine andere Art und Weise. Ein Mal, weil sie als Obdachlose kein Essen mehr hatte.
Fred würde obdachlosen auch helfen. Da war ich mir sicher.
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Straßenkind
Teen FictionJosie hat schon ganz vergessen, was das Wort "leicht" für eine Bedeutung hat. Als obdachlose streift sie schon seit Jahren durch die Straßen und versucht sich am Leben zu halten, doch immer wieder wird sie von der Härte des Überlebens getroffen: Ess...