Ihr Körper biegt sich perfekt in den Armen des Mannes, der sie gerade eben noch mit drei schnellen Drehungen durch den gesamten Saal getanzt hat.
Die Position wirkt geradezu ruhig, die extreme Körperspannung sieht so leicht aus, dass man sich ihrer Existenz erst bewusst wird, als Alessandra sich eigenständig aus dem angewinkelten Arm ihres Partners dreht, um dann schnell wieder in dieselbe Position wie zuvor zu fallen. Die Einundzwanzigjährige ist total konzentriert und weiß genau, dass Espen sie auf den zweiten Schlag in einer Promenade in die gegenüberliegende Ecke führen wird.
Die Folge ist einstudiert, sie haben sie tausende Male wiederholt, an den kleinsten Details gefeilt und immer und immer wieder trainiert. Auf die Promenade folgt ein Kreisel, genau dann, wenn Adele zum zweiten Mal mit dem Chorus von Someone Like You beginnt.
Doch gerade, als Espen zum Kreisel ansetzt, bemerkt Alessandra plötzlich eine Veränderung im Raum. Irgendjemand ist gerade durch die große Flügeltür gekommen. Sie kann nicht hinsehen, ihr Kopf muss links bleiben, der Hals gedehnt, als würde sie ihn jemandem zum Küssen darbieten. Der Gedanke bringt sie jedes Mal zum Schaudern, aber jetzt ist ihre Konzentration dahin, ihre heile Welt beim Tanzen ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Espen merkt es sofort, weil ihre Körperspannung nachlässt. Er nimmt den ganzen Schwung aus der Drehung, damit sie problemlos stehenbleiben kann.
Normalerweise wäre sie jetzt genervt und Espen würde den Eindringling fragen, wieso er das Training stört. Diesmal nicht, diesmal löst Alessandra sich aus der Tanzhaltung und läuft fröhlich mit federleichten Schritten zur Tür.
Der große Norweger, der dort steht, erwidert ihr Lächeln und umarmt sie stürmisch, während er in ihre Haare flüstert: „Endlich bin ich bei dir, ich hab dich echt vermisst. Ich bin so stolz auf dich, Ali. Weltmeisterin, da bist du jünger als ich und schon erfolgreicher!“
Seine Schwester schüttelt lächelnd den Kopf und sagt dann: „Kenneth, du weißt, dass das nicht stimmt. Du bist das größere Talent. Ohne Espen hätte ich das nie geschafft, und ohne unsere Trainer, und ohne deine Zuversicht.“
„Jetzt hör auf, dein Licht immer unter den Scheffel zu stellen. Du bist Juniorenweltmeisterin, sowas kommt nicht von nichts.“
„Na gut“, murmelt Alessandra, stimmt ihrem Bruder aber noch nicht wirklich zu. Er beschließt jedoch, nicht weiter darauf zu bestehen, und winkt Espen, der ein wenig abseits gestanden hat, um den beiden ihren Freiraum zu lassen, zu sich.
„Espen, Glückwunsch!“, grinst der Skispringer den Tanzpartner seiner kleinen Schwester an und erkundigt sich dann: „Wie ist es meiner Schwester ergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe? Sie sieht glücklich aus, entspannter als im November.“
Espen wundert sich schon gar nicht mehr darüber, dass Kenneth ihn und nicht seine Schwester fragt, er kennt die Familie Gangnes nun schon lange genug, um zu wissen, dass Alessandra alle, und vor allem ihren Bruder, immer schützen will und nicht über ihre Probleme redet, wenn er nicht darauf besteht. Und das tut er nicht, er respektiert den zurückhaltenden, introvertierten Charakter seiner Schwester sehr, vielleicht sogar noch mehr als Espen selbst, der längst damit klarkommt, dass seine Tanzpartnerin sich ihm auch nach zehn Jahren nicht immer vollkommen anvertraut.
„Es stimmt, die Vorbereitung für das Turnier war anstrengend. Aber jetzt, da wir gewonnen haben, können wir uns zwar nicht darauf ausruhen, aber sie konnte sich selbst beweisen, dass sie das Zeug dazu hat, zur Weltspitze zu gehören. Danke, dass du sie davon überzeugt hast, überhaupt anzutreten. Ich glaube, sie hat es gebraucht. Oh, und es gab Tulpen bei der Zeremonie. Wir haben unsere Blumen zusammen verbrannt und haben dann den Morgen damit verbracht, in England eine weiße Lilie aufzutreiben.“
„War gar nicht so einfach“, sagt Alessandra leise, „die haben uns wahrscheinlich für verrückt gehalten. Aber weiße Lilien und Rosen sind nun einmal die einzigen Blumen, die ich mag. Die Uni war eigentlich ganz gut diese Woche. So langsam hören sie auf, mich zu beleidigen. Es ist immer noch anstrengend, aber du weißt ja, wie sehr mir das Tanzen hilft. Fast so wie das Springen früher.“
Kenneth sieht überrascht zu der jungen Frau in seinen Armen herunter. Der Sieg bei den Meisterschaften scheint wirklich dabei geholfen zu haben, dass sie mehr Selbstvertrauen und Zuversicht entwickelt hat, und aus irgendeinem Grund auch eine Überzeugung, dass es ihr gut tun könnte, wenn sie sich ihrem Bruder anvertraut.
„Hei, Ali!“, sagt er deswegen begeistert, „Du bist ja echt viel fröhlicher. Das ist so toll, wow, ich bin wirklich unglaublich stolz auf dich! Das weißt du, oder?“ Alessandra schaut beschämt zu Boden. Hätte sie gewusst, wie viel es ihrem Bruder bedeutet, dass sie ihm erzählt, was in ihrem Leben vor sich geht, hätte sie es schon viel früher in Erwägung gezogen. Flüsternd entschuldigt sie sich bei ihrem Bruder, der einfach nur glücklich zu sein scheint und seine kleine Schwester an sich drückt.
Vorsichtig schiebt er sie nach einem Augenblick jedoch ein Stück von sich weg und lächelt: „Bist du fertig für Planica? Ich bin dir echt dankbar, dass du mit mir kommst und mich unterstützt.“ Vorsichtig streicht er ihr eine Strähne hinters Ohr, wobei sie kaum zusammenzuckt, und dann zaghaft erwidert: „Du wirst dritter im Weltcup, da muss ich schon die erste sein, die dir dazu gratuliert, schließlich bist du mein Bruder und ich bin sehr stolz auf dich.“
„Das ist doch noch gar nicht sicher“, schmollt der Skispringer, „Hayböck ist echt stark. Aber wenn du da bist, und Helen natürlich, bin ich schon viel zuversichtlicher.“ Er zieht seine kleine Schwester zurück in seine Arme und wundert sich leise darüber, dass sie nicht zusammenzuckt. Normalerweise schreckt sie vor Berührungen oft zurück, außer bei Espen natürlich, und meistens auch ihm selbst. Diesmal kuschelt sie sich aber nur an seinen warmen Körper und genießt es, dass ihr Bruder bei ihr ist.
„Kenny, ich zieh mich nur schnell um, ja? Dann können wir los“, murmelt sie gegen seine Haare und entzieht sich dann seiner liebevollen Umarmung. „Zieh dich warm an, ja? Ich will nicht, dass du frierst. Du bist so dünn und in Planica ist es wahrscheinlich ziemlich kalt. Tom wird zwar alles tun, damit dir warm ist, aber ich mache mir trotzdem Sorgen.“
Alessandras Augen leuchten auf und ihre Stimme wird etwas heller und lauter, als sie fragt: „Tom kommt? Wirklich?“ Sobald ihr Bruder nickt, lächelt sie zaghaft und verschwindet dann in die Umkleide, wo sie ihr langes, glitzerndes Tanzkleid auszieht und gegen eine dunkelgraue Röhrenjeans, einen beigen Oversized-Pullover mit Strickmuster, einen schwarzen Mantel mit Fellkapuze und schwarze, kniehohe Stiefel eintauscht. Kenneth kommt gerade durch die Tür, als sie ihre hüftlangen, hellbraunen Locken aus der strengen Frisur befreien will. Der Norweger beobachtet sie dabei und macht nur kurz Platz für Espen, der sich auch umziehen will.
Nachdem Alessandra sich von Espen verabschiedet hat und versprochen hat, ihm zu schreiben, sobald sie in Slowenien gelandet sind, machen die beiden Geschwister sich auf den kurzen Weg zum Flughafen.
„Hast du etwas dabei, was du zur Party am Sonntag anziehen kannst?“, erkundigt sich Kenneth leise und sie nickt langsam: „Schon, aber ich weiß nicht, ob ich Lust auf eine Afterparty habe. Nach der Weltmeisterschaft musste ich natürlich, aber ich wollte eigentlich einfach nur weg. Es waren so viele Leute da, die mir entweder heuchelnd gratuliert haben oder mir die kalte Schulter gezeigt haben. Und ich kannte da ja niemanden wirklich. Dein Team kenne ich doch auch kaum, nur Tom und Anders.“
Alessandra schaut schüchtern zu Boden, denn sie will ihren Bruder nicht enttäuschen. Sie weiß nicht, ob es ihm überhaupt so viel bedeuten würde, dass sie zu der Party erscheint. „Mach dir darüber mal keine Sorgen. Die anderen sind alle echt nette Typen, mit denen man gut reden kann und auch mal Quatsch machen kann. Sie werden dich nur über meine und Toms Leichen schräg anschauen, okay? Außerdem sind die gar nicht so, sie freuen sich bestimmt, dich endlich kennenzulernen. Ich hab ihnen schon ein paar Mal von dir erzählt und sie damit genervt, wie stolz ich auf dich bin“, zieht ihr Bruder sie grinsend auf und der Versuch, seiner Schwester die Angst ein wenig zu nehmen, glückt tatsächlich.
Beruhigt steigt Alessandra ins Flugzeug und setzt sich ans Fenster neben ihren Bruder. Nachdem sie kurz nach dem Start ein Bild der Küste für Instagram gemacht hat, lehnt sie ihren Kopf gegen Kenneths Schulter und schläft schnell ein.
Der Skispringer beobachtet seine kleine Schwester, die den ganzen Flug verschläft. Ihre hellbraunen Locken umrahmen ihr zartes Gesicht und sie wirkt ausnahmsweise mal ganz entspannt, fast so wie wenn sie tanzt. Kenneths Lächeln ist schmerzvoll, wie gern würde er nämlich der jungen Frau, die er über alles liebt, einen Teil der Last, die sie mit sich herumträgt, von den Schultern nehmen.
Alessandra war schon immer still und zurückhaltend. In der Schule hatte sie sich nur zwei Mädchen anvertraut, die ihre engsten Freundinnen geworden waren und selbst ihren wegen des Skispringens und des Tanzens vollgeplanten Terminkalender respektiert haben. Als sie angefangen hatten, zu studieren, zogen beide Mädchen fort. Eine der beiden war Anders‘ Schwester Sophie gewesen. Alessandra begann ihr Medizinstudium in Oslo, wo sich viele Studenten schon kannten und mit ihrer introvertierten Art nicht zurechtkamen, weil sie sie für eingebildet und überheblich hielten, da die junge Frau sich so sehr auf das Studium und den Sport konzentrierte. Alles wurde noch schlimmer, als ein Student anfing, Gerüchte über sie zu verbreiten. Das schrecklichste daran war, dass eben dieser Mann neun Monate lang Alessandras erster Freund gewesen war, bevor er ihr erklärte, dass das Ganze nur für eine Wette war. Da er ein Skispringer gewesen war, verband die junge Frau von da an ihre schlechten Erinnerungen mit ihrem liebsten Sport. Sie gab das Springen auf und wandte sich dem Tanzen zu, das sie bis dahin nur als Ausgleich zum Springen gemacht hatte.
Kenneths Herz schmerzt bei dem Gedanken daran, dass diese Situation Alessandra am Boden zerstört hatte. Sie hatte sich total verschlossen, ließ niemanden an sich ran und flüchtete immer häufiger in den Tanzsaal, wo Espen auf sie wartete und keine Fragen stellte, sondern sie die Welt um sich herum vergessen ließ.
Und jetzt, drei Jahre später, beginnt seine Schwester endlich, sich ihm wieder zu öffnen. Kenneth lächelt leicht. Es ist wundervoll für ihn, zu sehen, dass es Alessandra endlich besser zu gehen scheint. Um sie aus dem Umfeld rauszureißen, hat er beschlossen, sie nach Planica einzuladen, wo das Team auf sie wartet. Der Norweger hat vor dem Abflug dem ganzen Team von dem Charakter seiner kleinen Schwester erzählt und von allen Seiten ist ihm versichert worden, dass das gar kein Problem darstellen wird. Und darauf vertraut er, er ist sich sicher, dass sein Team Alessandra respektvoll und freundschaftlich aufnehmen wird und keine Fragen stellen wird, sondern sie wie eine von ihnen behandeln wird.
Als das Flugzeug in den Landeanflug geht, lässt Kenneth beruhigt von seinen Gedanken ab. Er weckt Alessandra, die ihn zunächst verschlafen, dann aber zögerlich lächelnd anschaut, auf und die beiden verlassen das Flugzeug. Nachdem sie das Gepäck entgegengenommen haben, treten sie in die Eingangshalle des Flughafengebäudes, wo drei orange-blau gekleidete Männer unter der großen Anzeigetafel stehen und sie erwarten.
Toms Herumgehüpfe zaubert dabei ein leichtes Lächeln auf Alessandras Lippen, während eben jener beschließt, zu ihr zu laufen und ihr grinsend Hallo zu sagen. Zu seiner Überraschung umarmt ihn die junge Frau, als sie leise sagt: „Ich bin so froh, hier zu sein. Ich hab dich vermisst, Häschen.“
Der blonde Norweger grinst und meint dann beleidigt: „Alex hat mir verboten, in dem Kostüm zur Party zu gehen. Kommst du da hin? Bitte, bitte, bitte! Aber zuerst sollten wir was essen, ja?“ Die Medizinstudentin ist die Redseligkeit des älteren Skispringers bereits gewohnt, weshalb sie ihn nur zaghaft anlächelt und sich dann an Anders wendet, um ihn ebenfalls zu begrüßen. „Seit Tom dieses kleine Café entdeckt hat, will er morgens gar nicht mehr im Hotel frühstücken. Du kannst ihn dann ja mal begleiten, er freut sich sicher“, grinst dieser nachdem Alessandra ihn ebenfalls umarmt hat, woraufhin Tom begeistert auf und ab springt.
„Ali? Das hier ist Joachim, er ist auch ein Springer im A-Team“, wendet Kenneth sich an seine Schwester und deutet auf den ihr bislang unbekannten, großen Norweger. Sie hebt den Blick und betrachtet den Mann vor ihr zum ersten Mal wirklich, wobei sie ihm zuerst in die Augen sieht und ihr der Atem stockt.
Können Augen wirklich so eisig und zugleich warm, graublau und hypnotisierend sein? Als sie bemerkt, dass sie den Norweger anstarrt, sieht sie schüchtern zu Boden, kann aber das erstaunte Lächeln nicht aus ihrem Gesicht verbannen.
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Noen ting var bare aldri ment å være
FanfictionKenneths kleine Schwester Alessandra war früher ebenfalls Skispringerin. Allerdings hat sie diesen Sport, den sie so sehr geliebt hat, nach einem gewissen Ereignis in ihrer Vergangenheit aufgegeben. Stattdessen hat sie sich völlig aufs Tanzen konzen...