Kapitel 17

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Alessandra ist nach dem Essen mit Sophie auf ihr Zimmer gegangen, wo die beiden einfach nur geredet haben. Es überrascht die Medizinstudentin immer noch, dass es ihnen so leicht gefallen ist, wieder zu dem zurückzukehren, wie es vor drei Jahren gewesen ist.
„Ich sollte so langsam los zu Joachim, Lars meinte, er hat den Termin für vier Uhr angekündigt“, stellt sie später mit einem Blick auf ihr Handydisplay fest. Sophie nickt und lächelt, bietet an, sie zu begleiten und geht dann, als die andere Norwegerin dankend abgelehnt hat, zu ihrem Bruder aufs Zimmer.
Alessandra hingegen klopft an der Tür und es ist schon wieder Daniel, der sie ihr öffnet.
„Komm rein“, lächelt der blonde Skispringer und hilft ihr auch, sich auf Joachims Bett zu setzen, sodass sie die Krücken ablegen kann.
„Wo ist Joachim?“, fragt sie dann mit schiefgelegtem Kopf und ruft bei dem Athleten damit nur ein Lachen hervor.
„Der sollte gleich wieder hier sein, hat schließlich seinen Termin mit Lars.“
„Beziehungsweise mit mir.“
„Ach ja?“, erklingt eine ruhige Stimme aus der Richtung der Tür. Alessandra ist gar nicht aufgefallen, wie diese sich geöffnet hat und Joachim hereingekommen ist.
„Hei“, lächelt er dann sanft und setzt sich zu der Medizinstudentin aufs Bett, natürlich mit einigem Abstand, damit sie sich sicher fühlt, „Wieso macht Lars das nicht?“
Die junge Frau sinkt ein wenig in sich zusammen, auch wenn die Frage keinesfalls nach einer Anklage geklungen hat. „Es könnte sein, dass ich möglicherweise darauf bestanden hab, dass ich das auch kann?“, erwidert sie und kann sich das Lächeln einfach nicht verkneifen. Auch Daniel lacht wieder, worüber die anderen beiden jedoch synchron den Kopf schütteln.
„Ist ja schon gut“, meint der blonde Norweger dann und hebt abwehrend die Hände, „Ich geh ja schon. Zu Johann, falls ihr mich später braucht.“
Als Alessandra zu Joachim schaut, merkt sie, wie der sich eine Bemerkung verkneift und stattdessen sie anschaut.
„Gehen wir auf Lars‘ Zimmer oder bleiben wir hier?“, fragt er dann ruhig und die Medizinstudentin schüttelt den Kopf. Sie hat ein wenig Massageöl mitgebracht und braucht nur noch ein Handtuch, das Joachim ihr auch gleich gibt, bevor er sich das Shirt über den Kopf zieht und sich aufs Bett legt.
Alessandra entfernt vorsichtig die Tapes vom Morgen, merkt sich dabei, wie Lars es genau gemacht hat, und drückt dann etwas angewärmtes Öl auf den Rücken des Athleten.
„Meine Finger sind etwas kalt“, warnt sie leise, bevor sie das Öl verteilt und dabei mehrmals über das Tattoo zwischen Joachims Schulterblättern fährt. Sofort ertastet sie die Verspannung, auch wenn sie seit dem letzten Mal, dass sie den Athleten massiert hat, etwas kleiner geworden zu sein scheint, und fängt an, sie geübt zu massieren.
Wie auch beim letzten Mal sagt Joachim nichts, bis die Medizinstudentin ihn schüchtern anspricht.
„Erzähl mir von deinem Tattoo?“
Sie hat ihre Bitte so leise ausgesprochen, dass sie sich zunächst unsicher ist, ob der Skispringer sie überhaupt gehört hat. Als sie jedoch sieht, wie Joachim den Kopf zur Seite dreht und sanft lächelt, besteht der Zweifel nicht mehr, auch wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie sich darüber freuen soll.
„Dazu gibt es nicht viel zu sagen. Ich hab es wegen dem Skispringen. Wir werden ja Adler genannt, aber ob wir einen guten Sprung machen…du weißt, von wie viel das abhängt. Deswegen die Würfel.“
Alessandra nickt, auch wenn der Skispringer das nur aus dem Augenwinkel registrieren kann, und streicht zaghaft über die Flügel des Adlers. „Es steht dir“, gibt sie flüsternd zu und greift dann nach dem Tape, das sie in die nötigen Stücke schneidet.
Joachim dreht den Kopf zurück in die gerade Position zwischen seinen Armen, sodass seine Stimme gedämpft klingt, als er feststellt: „Das klingt, als hättest du mir sowas nicht zugetraut.“
„Hab ich auch nicht.“
„Du unterschätzt mich.“
Die junge Norwegerin zuckt mit den Schulter. „Mag sein, es wär ja aber auch ganz schön langweilig, wenn ich dich perfekt einschätzen könnte, oder?“
Der Skispringer erwidert nichts und bleibt auch still, bis die Medizinstudentin abschließend über die Tapes streicht und verkündet, fertig zu sein. Erst dann setzt er sich auf, lehnt sich an die Wand und sieht zu Alessandra, die ihm wortlos sein Shirt hinhält.
Seine Lippen umspielt ein Lächeln, aber er hält sich davon zurück, einen Kommentar zu machen, weil er nicht will, dass sich die junge Frau sofort wieder unwohl oder unsicher fühlt. Stattdessen zieht er sich das Shirt über und bedeutet ihr dann, sich neben ihn ganz aufs Bett zu setzen.
Schüchtern sieht Alessandra zu dem Athleten, der auch gleich mit der Sprache herausrückt, wieso er sie so wortlos darum bittet, zu bleiben.
„Ich möchte mit dir über etwas reden.“
Die Tänzerin nickt und legt fragend den Kopf schief, aber Joachim schüttelt seinen und seufzt. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“
Er fährt sich mit einer Hand durch die Haare und schaut der jungen Frau dann wieder in die Augen. Sie erwidert seinen Blick fest, auch wenn sie gerade das Gefühl hat, lieber weglaufen zu wollen.
In dem Moment, in dem Joachim ansetzt, etwas zu sagen, klingelt Alessandras Handy und Sophies Name erscheint auf dem Bildschirm. Seltsam, die andere Norwegerin weiß doch, dass sie gerade beschäftigt ist, also wieso ruft sie an? Das ist unnormal für sie, demnach muss es etwas wirklich wichtiges sein.
Entschuldigend sieht sie Joachim an, der zwar seufzt, aber abwinkt, und geht ans Telefon.
„Ist alles okay?“
„Nein. Fannis Bein krampft schon wieder, aber er sagt, er hackt mir den Kopf ab, wenn ich Lars anrufe. Kannst du bitte kommen?“
„Ich bin gleich da.“
Wieder dreht sie sich zu Joachim und schaut ihn um Verzeihung bittend an. Der Athlet lächelt, aber es wirkt irgendwie erzwungen.
„Ich komm gleich danach wieder“, verspricht Alessandra, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, was sie da sagt. Aber jetzt ist es sowieso zu spät, jetzt kann sie es nicht mehr zurücknehmen. Joachim nickt lächelnd und reicht ihr die Krücken, sobald sie aufgestanden ist.
So schnell es geht humpelt sie zu dem Zimmer vom Küken und holt nur schnell auf dem Weg ihre Magnesiumtabletten.
„Hat Lars dir keine gegeben?“, ist dann auch das erste, was sie den kleinen Athleten fragt, sobald sie bei ihm auf dem Bett sitzt und ihm die Tabletten gegeben hat.
„Doch“, gibt er grummelnd zu.
„Und wieso hast du sie nicht genommen?“
Darauf erhält die Medizinstudentin nur einen bösen Blick als Antwort, den sie aber geflissentlich ignoriert. Bei den Fannemels macht ihr das reichlich wenig aus, die kennt sie einfach schon viel zu lange, als dass sie noch glauben würde, dass sie es ernsthaft böse meinen.
„Ich hoffe, Sophie hat dir schon die Meinung gegeigt. Du weißt, wie gefährlich es ist, wenn sowas im Sprung passiert. Und dann auch noch auf der Flugschanze. Ich weiß nicht, wieso du Lars im Moment aus dem Weg gehst, aber das kann kein Grund sein, so leichtfertig mit deiner Gesundheit umzugehen. Verstanden?“
Der Weltrekordhalter nickt, während sich sein Gesicht entspannt. Der Krampf scheint nachzulassen. „Ich weiß, es war doof. Ich war, nein, bin einfach sauer auf Lars.“
„Und wieso?“, hakt die Medizinstudentin nach, während sie leicht das Bein massiert.
Der Athlet zappelt unter ihren Händen, was sie zum Seufzen bringt. Wie hält Lars das nur aus? Es dauert mehrere Minuten, bis er endlich relativ still liegt.
„Also?“, fragt sie erneut, als sie nach diesen Minuten immer noch keine Antwort erhalten hat.
„Er mischt sich in Sachen ein, die ihn nichts angehen. Er glaubt, ich schleppe irgendein Problem mit mir rum, dabei hat er doch keine Ahnung! Er soll mich einfach in Ruhe lassen. Da wird man doch sonst noch wahnsinnig!“, schimpft das Küken vor sich hin, aber auf Alessandra wirkt das eher wie eine ziemlich halbherzige Anklage.
Sie lächelt dem Skispringer zu und meint: „Er würde nicht nachfragen, wenn er nicht ernsthaft das Gefühl hätte, dass etwas nicht in Ordnung ist. Das weißt du, Küken. Es ist okay, wenn du mit ihm nicht reden magst, auch wenn er das nicht gewohnt ist, weil du das doch sonst immer tust, oder? Er wird es akzeptieren. Aber mit irgendwem solltest du reden.“
„Das hat er auch gesagt“, grummelt der Athlet weiter. Alessandra lächelt, klar hat Lars das gesagt. Er will ja nur, dass es seinem kleinen Schützling besser geht, egal auf welchem Weg. So ist der Physio eben.
„Und mit wem soll ich dann reden?“, fragt Anders und setzt sich auf, weil die Medizinstudentin gerade fertig geworden ist. Er kassiert damit jedoch gleich einen Schlag auf den Hinterkopf von seiner Schwester, die ungläubig den Kopf schüttelt. „Manchmal bist du echt so ein Sturkopf. Ich bin doch da und Einar auch? Alle deine Teamkollegen? Und wenn nicht Lars, dann vielleicht Anders?“
Das letzte hat sie mit einem Zwinkern hinzugefügt, doch ihr Bruder findet das nicht wirklich lustig. „Um mir noch mehr Kommentare darüber anzuhören, dass ich so klein bin? Dass ich bestimmt nichtmal die Türklinke erreiche? Oder lieber darüber, dass ich ein scheiß Mal Lars‘ Hoodie anhatte? Schau.“
Er vergräbt die Hände in seinen Haaren, nachdem er sein Handy in Alessandras Schoß geworfen hat. Sie ruft die letzten Nachrichten auf und sieht, was Anders geschrieben hat. Wirklich lachen kann sie darüber gerade nicht, auch wenn es von Anders als Scherz gemeint gewesen ist, denn an der Situation hat sich dadurch wohl kaum etwas gebessert. Eher im Gegenteil, der kleine Athlet wirkt noch angespannter.
„Anders ist ein erwachsener Mann und Lars trägt nicht die Verantwortung dafür, was er macht. Er wird ihn schon zurechtgewiesen haben, aber du weißt, wie erfolgreich das sein kann, schließlich kennst du Tom. Also hör auf, zu sagen, dass du sauer auf Lars bist. Das ist eine blöde Ausrede, und entweder du redest mit mir darüber, oder mit irgendwem sonst, oder ich sperre euch beide in ein Zimmer ein, bis du dich wieder beruhigt hast“, bestimmt Sophie in einem Tonfall, der ganz klar zeigt, dass sie keine Diskussion und keine weiteren Ausreden will, und fügt dann mit einem Grinsen hinzu: „Ich bin ja für die letzte Methode, aber noch hast du die Wahl.“
Alessandra lächelt, als sich die andere Norwegerin zu ihr dreht. Ja, das ist eben Sophies Art, an so ein Problem ranzugehen, sie sagt einfach gerade heraus, was sie denkt, auch wenn sie genaustens darauf achtet, niemanden damit zu verletzen. Manchmal beneidet ihre beste Freundin sie darum, wie auch jetzt. Sie hätte sich nie getraut, das Fanni so ins Gesicht zu sagen, aber andererseits sind die beiden ja auch Geschwister. Bei Kenneth wäre es wohl auch kein Problem für sie gewesen. Trotzdem, hier hätte sie wahrscheinlich viel diplomatischer zu handeln versucht, ist aber gleichzeitig froh, dass ihr die Aufgabe so schnell abgenommen worden ist.
„Du schaffst das ganz gut alleine, oder?“, lächelt sie deswegen Sophie zu, „Und ich kann zurück zu Joachim? Er wollte noch mit mir reden. Außer du brauchst mich, Küken?“
Der angesprochene Skispringer nickt vehement mit einem misstrauischen Blick zu seiner Schwester, die jedoch lächelt und meint: „Klar.“
Also macht Alessandra sich auf den Weg zurück zu Joachim, der schon auf sie zu warten scheint, weil er nur kurz nachdem sie geklopft hat die Tür öffnet und ihr vorsichtig zu seinem Bett hilft. Dort schnappt er sich Daniels Kissen, legt es über sein eigenes und hilft ihr, sich daran angelehnt hinzusetzen, sodass sie aber eher halb liegt.
„Und wo sitzt du jetzt?“
Als Antwort klettert er auf ihre andere Seite, setzt sich an die Wand gelehnt hin und schiebt seine Beine unter ihre, die sie leicht angewinkelt gehabt hat.
„Ist das okay so?“
Sie nickt leicht und scheint den Athleten damit zu beruhigen. Seufzend schließt die junge Frau kurz die Augen, sie merkt erst jetzt, da sie in Joachims Bett liegt, wie sehr sie doch einen Moment der Ruhe gebraucht hat. Ein sanfter Druck auf dem Schienbein ihres unverletzten Beins bringt sie jedoch dazu, die Augen wieder zu öffnen. Joachims Hand ruht leicht darauf, während die andere auf seinem eigenen Bein liegt.
Er folgt Alessandras Blick, sieht ihr jedoch dann in die Augen und merkt daran, dass es der Tänzerin gar nicht wirklich unangenehm ist, zumindest deutet sie so das Lächeln, das sich auf seine Lippen schleicht.
„Man sollte meinen, dass ich genug Zeit gehabt hab, darüber nachzudenken, was ich sagen soll, oder?“, seufzt Joachim und rutscht noch ein Stück näher an die Wand, wobei seine Hand sich ein wenig auf dem Bein der Tänzerin bewegt. Als er den Kopf wieder zu ihr dreht, lächelt er und schüttelt den Kopf.
Alessandra schließt die Augen wieder und erwidert leise: „Du willst darüber reden, was mit mir los ist, oder?“
„Nein“, lenkt der Norweger schnell ein, etwas zu schnell für ihren Geschmack, und außerdem hat seine Stimme kurz gewackelt und nicht so ruhig geklungen wie zuvor.
Sie öffnet die Augen wieder und schaut direkt in seine.
„Aber so ähnlich.“
Na also, hat sie doch richtig gelegen.
„Es ist…merkwürdig. Jedes Mal, wenn ich mit dir rede, mache ich mir Gedanken darum, dich bloß nicht zu verletzen oder zu verunsichern. Klar, wir haben Kenneth alle versprochen, aufzupassen. Aber das ist nicht alles, irgendwie will ich selbst auch, dass du mir vertraust. Ich will nicht verlangen, dass du mir erzählst, was passiert ist. Ich weiß auch nicht, was ich mir hiervon erwarte. Ich hab mir noch nie so viele Gedanken über die Freundschaft von irgendwem gemacht.“
Er fährt sich frustriert mit der freien Hand durch die Haare, und das ist der Moment, in dem Alessandra merkt, dass sie wirklich mit ihm reden muss, egal wie viel Angst sie immer noch davor hat.

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