Kapitel 16

245 9 7
                                    

Sobald ihr Bruder wieder weg ist, weil er zur Qualifikation hoch auf die Schanze muss, ist Alessandra langweilig. Sie nimmt wieder ihre Krücken und humpelt durchs Springerlager, so nah an die Schanze ran, wie es nur geht. Hier gibt es keine Möglichkeit für sie, sich hinzusetzen, aber das will sie gerade auch gar nicht, sie hat genug vom Rumsitzen.
Irgendwie ist es auch viel aufregender, die Athleten wirklich den Hang hinunterfliegen zu sehen, als bloß über eine Leinwand. Klar, da sieht man mehr, aber es ist längst nicht so eindrucksvoll.
„Sag mal hat Gangnes etwa schon wieder was am Knie oder wie?“
Die auf Englisch formulierte Frage reißt Alessandra eine Weile später aus ihrer Konzentration.
„Unmöglich, Mac, ich hab ihn doch eben erst oben gesehen“, erwidert eine andere Stimme. Die beiden kommen von hinten auf die junge Frau zu, während die den beiden wenig Beachtung schenkt.
„Und wer ist dann das da? Mit den Krücken? Tande meinte doch vorhin, dass alle Betreuer viel zu tun haben.“
Die Medizinstudentin fühlt, wie ihr jemand auf die Schulter tippt und dreht sich ruckartig, oder so ruckartig, wie es eben auf Krücken geht, um.
„Oops. Hi“, meint der Kanadier, der damit in ihrem Blickfeld erscheint, und greift nach ihrer Akkreditierung. „Alessandra...aha. So falsch lag ich gar nicht, schau, Kev.“
Die Medizinstudentin sieht den Athleten, den sie eindeutig als Mackenzie identifizieren kann, schließlich gibt es sonst keinen Kanadier im Feld, mit hochgezogenen Augenbrauen an, aber den stört das herzlich wenig.
„Ignorier Mackenzie, er ist einfach schlecht erzogen. Bist du seine Schwester? Kenneths, meine ich?“, erkundigt sich der andere, seiner Mütze nach ein Amerikaner, höflicher.
Die Norwegerin nickt und schaut schulterzuckend dabei zu, wie der Kanadier seinem Begleiter die Mütze übers Gesicht zieht. „Sagt ja wohl der richtige.“
Dann wendet er sich an Alessandra und meint: „Ich bin Mackenzie Boyd-Clowes, die Ein-Mann-Manschaft aus Kanada. Und das ist Kevin Bickner, die Amerikaner muss ich halt wohl oder übel mit mir herumschleifen.“
„Sieh uns einfach als schmückendes Element an“, erwidert der Nordamerikaner schulterzuckend, während er seine Mütze auf den blonden Haaren zurechtrückt. Mackenzie lacht aber nur laut. „Und was an dir ist schmückend?“
Alessandra schaut immer noch unsicher zwischen den beiden Athleten hin und her, als sich eine Hand auf ihre Hüfte legt. Sie ist sich schnell bewusst, wer das ist, schließlich gibt es kaum Menschen, die das machen würden, und nur bei noch wenigeren von ihnen würde es ihr auffallen. Es bleibt nur ein einziger, der auch gerade Zeit haben kann.
„Hei, Anders“, sagt sie leise und dreht sich zu dem Haugvad-Zwilling um, der sie erstaunt anlächelt.
„Woran hast du gemerkt, dass ich nicht Lars bin? Er meinte, es sei dir nicht aufgefallen, als er das bei dir gemacht hat.“
Bevor die Medizinstudentin etwas erwidern kann, hängt der neugierige Kanadier schon halb auf Anders. „Ein Lars? Ohne Teamsachen? Nur mit Jacke? Wer bist du denn jetzt schon wieder? Sein Klon? Kevin, ich hab dir gesagt, dass das verboten ist. Schau, was bei den Fannemels rausgekommen ist.“
„Halt doch einfach mal den Rand, Mackenzie“, seufzt Anders und dem Kanadier hängt die Kinnlade bis auf den Boden. Der Norweger legt unterdessen seinen Arm ganz um die junge Frau, die sich nicht wehrt, auch wenn es sich anders anfühlt als bei Lars, und Kevin lacht.
„Hat Lars dir nicht verboten, hier rumzulaufen?“, erkundigt er sich dann bei der jüngeren, die die Augen verdreht und scherzt: „Da waren die beiden ja gerade weniger nervig als du.“
„Ich weiß auch immer noch nicht, wer du bist“, mischt sich Mackenzie da wieder ein.
„Alessandra Gangnes, ehemalige Skispringerin, Tänzerin“, stellt Anders genervt klar, „Und ja, ich bin Larsis Zwilling. Habt ihr eigentlich nichts Besseres zu tun? Gibt es ein Problem mit Twitter, von dem ich noch nichts weiß?“
„Wieso ehemalig? Hast du Angst vor der kleinen Japanerin?“, fragt der vorlaute Athlet weiter, ohne Anders auch nur einen Hauch Beachtung zu schenken. Alessandra schaut schüchtern auf den Boden, zu unsicher, um zu antworten, aber das muss sie auch nicht, es wird ihr von Andreas abgenommen: „Wohl eher andersrum. Sie würde die kleine Japanerin in Grund und Boden springen.“
Die ehemalige Skispringerin dreht sich zu dem großen Norweger um, der sie mit einem für ihn typischen breiten Grinsen anschaut. Sie erwidert seinen Blick mit einem kleinen Lächeln, schüttelt aber trotzdem den Kopf. Woher will er denn wissen, wie gut sie gewesen ist? Sie selbst würde sich niemals trauen, zu sagen, dass sie Sara Takanashi schlagen könnte.
„Du humpelst ja“, stellt Anders jedoch plötzlich fest und lenkt damit Alessandras Aufmerksamkeit auf das linke Bein des Athleten, das er entlastet, während er steht.
„Ja“, gibt Andreas mit einem Lächeln zu – der Mann kann einfach nicht nicht lächeln, glaubt die junge Frau so langsam – und wendet sich an Alessandra, „Lars hat gefragt, ob du dich darum kümmern kannst. Ich hab mir bei der Landung das Knie leicht verdreht. Und dir soll ich sagen: Anders soll seinen Arsch hierher bewegen, wo ist er überhaupt hin? Wenn er mit Alessandra lästert, dann setzt’s was.“
Der Haugvad-Zwilling lacht über die treffende Nachahmung seines Bruders und macht sich auf den Weg zurück an den Auslauf, während Alessandra sich zu Mackenzie dreht.
„Hilf mir bitte mal, ich kann Andreas nicht stützen.“
Zu ihrer Überraschung zögern beide Nordamerikaner nicht einen Moment, sondern helfen dem Norweger gleich auf dem Weg zum Container. Die Medizinstudentin läuft auf den Krücken neben ihnen her und öffnet dann die Tür.
„Danke“, grinst Andreas die anderen beiden Athleten an, als sie ihn auf einem Stuhl absetzen, und sie verschwinden, ohne Alessandra noch weitere neugierige Fragen zu stellen. Darüber erleichtert seufzt sie leise auf, bevor sie sich vor Andreas setzt, ihm dabei hilft, sich aus dem Sprunganzug zu schälen und dann vorsichtig sein Knie abtastet.
Der Norweger hält erschrocken die Luft an, als die Medizinstudentin sein Knie leicht verdreht, aber als sie loslässt, ist er überrascht. Die Schmerzen sind schon wieder so gut wie weg.
„Du hast es dir wirklich verdreht, die Kniescheibe war auch ein Stück verrutscht. Jetzt ist alles wieder da, wo es hingehört. Wahrscheinlich ist es noch leicht gestaucht, klar bei dem Druck, aber das sollte schnell besser werden. Heute kein Training mehr.“
Andreas nickt, sichtlich erleichtert, dass es nichts ernsteres wie ein Bänderriss ist, und bedankt sich bei der Medizinstudentin, die nur abwinkt. Es ist schließlich ihr Job.
Der Skispringer grinst jedoch weiterhin. Kurz darauf geht die Tür auf und die nächsten Athleten kommen herein.
„Na, Ali“, sagt der ältere Fannemel und legt der angesprochenen eine Hand auf die Schulter. Sie dreht sich lächelnd zu ihm um und fragt nach seinem Sprung, während Joachim in der anderen Ecke des Containers seinen Sprunganzug loswird.
Allerdings hat der kleine Athlet kaum Zeit, der Medizinstudentin wirklich von seinem Flug zu berichten, weil schnell nacheinander die restlichen Athleten hereinkommen. Als schließlich Kenneth als letzter den Container betritt, verabschiedet seine Schwester sich wieder zu Vibeke, die sicher auch schon wieder auf dem Weg zu ihrem „Büro“ ist. Tatsächlich ist die andere Norwegerin schon da und drückt ihr gleich eine der beiden Kameras in die Hand, um die Bilder auf einen Laptop zu übertragen.
„Die Jungs brauchen noch etwa eine Stunde, Alex hält sicher noch eine kleine Ansprache, gibt vielleicht sogar schon das Team bekannt. Also können wir schon mal die Bilder durchschauen“, stellt sie dann fest, „Bilder, die du besonders gut findest, kannst du hier in diesen Ordner verschieben. Schau, dass von jedem Athleten was dabei ist, dann können sie, wenn sie wollen, ein Bild auf ihren eigenen Seiten posten.“
Alessandra nickt kurz und macht sich dann an die Arbeit. Die Bilder von ihr, die Vibeke gemacht hat, zieht sie direkt auf ihr Handy, so wie ein Bild, auf dem Lars mal wieder Anders etwas zu offensichtlich anstarrt. Trotzdem wandert das Bild mit einem von den beiden Zwillingen, wie sie grinsend Arm in Arm vor der Schanze stehen, in Lars‘ Ordner. Bei dem Gedanken daran, wie Lars darauf reagieren wird, muss sich die junge Frau ein Lachen verkneifen, aber das kann sie sich nicht entgehen lassen.
Als es schließlich an der Tür klopft und Alex seinen Kopf hineinsteckt, um die beiden Norwegerinnen zur Abfahrt zu rufen, sind sie gerade fertig geworden und fahren die Laptops herunter.
„Danke für deine Hilfe“, bedankt Vibeke sich und umarmt die andere fest, was ihr ein weiteres Mal gar nichts ausmacht. Deswegen lächelt sie Vibeke noch etwas breiter zu und verlässt dann mit ihr den Container.
Auf der Fahrt zurück ins Hotel lädt sie ein Bild von sich auf Instagram hoch, das Vibeke von ihr gemacht hat, als sie zurück ins Springerlager gegangen sind. Sie schneidet jedoch so viel ab, dass man die Krücken nicht sehen kann, aber dafür die Schanze im Hintergrund umso schöner.
alessandragangnes – it was great to spend a day supporting @vibekelinn with the media work for my team @hopplandslaget #skijumpingfamily
Zufrieden nickt sie und loggt sich dann aber sofort wieder aus, weil das Auto vor dem Hotel hält.
Es ist früher Nachmittag, als das Team zu Mittag isst. Alessandra sitzt neben Lars, mit dem sie seit dem Morgen praktisch kein Wort gewechselt hat und der sich sofort nach ihrem Fuß erkundigt, wobei sie ihn beruhigen kann.
„Hat Andreas schon mit dir geredet?“
„Ja, Kniescheibe verrutscht, alles wieder gut, ein wenig gestaucht. Danke, dass du meinen Job machst.“ Der Physiotherapeut zwinkert ihr zu.
Sie lächelt ihm nur zaghaft zu. „Hat Kenny zu dir nochmal was wegen seinem Oberschenkel gesagt?“
„Nein, mach dir keine Sorgen. Er bewegt sich auch ganz normal.“
Während dem Essen tauschen sie sich auch über die anderen Athleten und deren Beschwerden aus. Lars besteht darauf, sich um Joachim zu kümmern, egal wie oft Alessandra ihm versichert, dass es kein Problem für sie ist, dessen Schulter zu massieren und zu tapen.
Obwohl die Diskussion geflüstert abläuft, schaltet Kenneth, der den beiden gegenüber sitzt, sich irgendwann ein. „Lars, lass sie“, bittet er leise, „Wenn sie es sich schon zutraut, dann lass sie es auch machen. Vorhin haben sie auch miteinander geredet.“
Lars scheint überrascht und kann nicht anders, als geschlagen zu nicken.
„Und jetzt hör endlich auf, dir irgendwelche bescheuerten Vorwürfe zu machen“, ergänzt die Medizinstudentin, was Lars nur noch mehr überrascht. Ist es so leicht gewesen, ihn zu durchschauen und zu erkennen, dass er sich immer noch dafür ohrfeigen könnte, dass er dafür gesorgt hat, dass die junge Norwegerin so viel Zeit mit dem Athleten verbracht hat?
Er kommt gar nicht dazu, etwas zu erwidern, für Alessandra scheint das Thema nämlich abgeschlossen zu sein, denn sie fährt jetzt fort: „Was ist mit Küken?“
Lars zuckt unmerklich zusammen, als sie den kleinen Athleten erwähnt. „Was soll mit Anders sein?“, erkundigt er sich, vorsichtig, damit er nicht gereizt klingt, „Gestern das war gar nichts. Solltest du ja wissen.“
„Darüber rede ich gar nicht.“
„Sondern?“
Jetzt ist der Physio überrascht, ihm ist an dem kleinen Athleten nichts aufgefallen, was könnte sie also meinen?
„Hast du das nicht gesehen? Er humpelt, seit wir zurück sind. Ich hab das Gefühl, es kommt immer noch von dem Krampf. Zumindest entlastet er das Bein und hat sich vorhin auch schon in die Richtung gefasst.“
Die Medizinstudentin sieht Lars stirnrunzelnd an. Wie kann ihm das nicht aufgefallen sein? Der Norweger ist jedoch genauso ratlos. Normalerweise fällt ihm sowas sofort auf, gerade bei Anders, so ungern er das auch zugibt. Aber wenn er genau darüber nachdenkt, hat er den Athleten nicht laufen sehen, seit er unten im Auslauf die Schuhe gewechselt hat. Da ist er mit Johann beschäftigt gewesen, dann ist der kleine Athlet ganz schnell zum Bus verschwunden, hat aber beim Aussteigen ewig gebraucht. Er erinnert sich jetzt wieder, dass Alex darüber gestöhnt hat.
„Bist du sicher?“, fragt er dennoch nach, nicht, weil er Alessandra nicht glaubt, sondern weil er sichergehen will, bevor er bei Anders nachhakt, nach dem was gestern Abend war.
Sie bestätigt jedoch: „Ganz sicher.“
„Okay. Ich spreche ihn nach dem Essen an.“
Obwohl der Physio sich das fest vornimmt, kommt er nicht dazu, weil der Athlet, nachdem Lars auf Toilette gewesen ist, schon verschwunden ist. Als er an seiner Zimmertür klopft, kriegt der ältere Norweger jedoch auch keine Antwort, obwohl Sophie schwört, dass der kleine dorthin gegangen ist.
Lars (15:23) – Physio-Termin, Küken. Jetzt.
Er stöhnt genervt auf, als nach fünf Minuten zwar zwei blaue Haken erscheinen, aber selbst nach einer halben Stunde keine Antwort kommt. So langsam hat er das Gefühl, das Küken geht ihm gezielt aus dem Weg.
„Was schaust du denn so, ist was mit deinem kleinen Loverboy?“
Ohne es zu wissen, trifft sein Zwilling den Nagel auf den Kopf, was diesem auch sofort auffällt, als Lars ihn mit undurchdringlicher Miene anschaut.
„Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, seufzt Anders und wirft sich zu seinem Bruder, der nur mit den Schultern zucken kann, aufs Bett.
Lars verdreht die Augen, als er erwidert: „Wenn ich das mal wüsste. Laut Alessandra humpelt er, aber er geht mir anscheinend aus dem Weg, ich hab ihn nicht ein Mal laufen sehen und auf meine Nachricht antwortet er auch nicht.“
Anders greift wortlos nach dem Handy seines Zwillings und öffnet die Nachricht.
„Er ist außerdem gar nicht mein Loverboy“, stellt Lars fest, viel zu spät, das ist ihm selber klar. Aber sein Bruder soll denken, was er will, das hat er sowieso schon immer getan.
„Natürlich ist er das nicht.“
Lars weiß nicht, wie die Aussage gemeint ist, fragt aber auch nicht weiter nach, weil er versucht, seinem Bruder das Handy wegzunehmen. Zu spät, wie sich herausstellt. Die Nachricht ist schon versendet.
Lars (16:01) – Lars ist ein Vollidiot, egal was er gemacht hat. Verzeih ihm lieber schnell, sonst liegt er hier noch länger wie so ein Häufchen Elend rum. Und jetzt schwing deinen Arsch her, Entchen. Kriegst auch bestimmt einen Hoodie. ;)
„Hättest du nicht wenigstens seinen Spitznamen richtig hinkriegen können?“
Lars ist längst bewusst, dass er sich über den Rest der Nachricht gar nicht aufregen braucht, es ist sinnlos und sein Zwilling wird sich nur darüber lustig machen.
Diesmal ist es Anders, der mit den Schultern zuckt und erwidert: „Küken, Entchen, alles dasselbe. Das nächste Mal schreibe ich Loverboy, dann kommt es nicht zu Verwechslungen, außer…“
Der Physio schlägt seinem Bruder gegen den Hinterkopf, was auch zumindest kurzzeitig seine Wirkung zeigt.
Wieder schaut er auf sein Handy, aber genau wie zuvor erscheinen die blauen Haken, ohne dass eine Antwort kommt, und Lars versteht echt die Welt nicht mehr.

Noen ting var bare aldri ment å væreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt