3 - Laura

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Zwei Stunden.

So lange habe ich Zeit, um meine monatliche Ration an Lebensmitteln abzuholen und nach Hause zu bringen, bevor ich wieder zur Arbeit muss. 

Vielleicht sollte ich mich darauf freuen. Schließlich bedeutet dies zwei Stunden Freizeit.

Aber vielmehr bedeutet es auch, mich mit den Pinken herumschlagen zu müssen, die heute ebenfalls ihre Nahrungsmittel abholen. Nur für eine Woche statt für einen Monat. Frisches Gemüse und Früchte. Obwohl sie nichts dafür tun. Trotzdem brüsten sie sich damit, als hätten sie etwas Besonderes geleistet.

Ich unterdrücke ein Seufzen, als die Glocke läutet und ankündigt, dass es jetzt Zeit ist. Ich schlage die Tür zu meiner gläsernen Bürokammer hinter mir zu und zucke zusammen, als sie mit einem Knall ins Schloss fällt. Bestimmt kriege ich dafür wieder Lohnabzug. Aber daran will ich jetzt nicht denken.

Zusammen mit dem Rest der Blauen, die hier arbeiten, verlasse ich das Gebäude und mache mich auf den Weg zur Essensausgabe, die nur zwei Straßen weiter liegt. Wie jeden Monat stelle ich mich brav in die Schlange, dorthin, wo es meine Nummer verlangt. Neben uns stehen die Pinken und schauen auf uns herab.

Ich habe den Jungen, der jeden Monat neben mir steht, nie sonderlich beachtet. Auch die Pinken müssen immer an derselben Stelle stehen, bei ihnen geht es jedoch nach dem Alphabet ihrer Nachnamen.

Doch heute erlaube ich es mir zum ersten Mal, ihn anzusehen. Er ist etwas kleiner als ich, was wohl an meinen schwindelerregend hohen Schuhen liegt. Seine leuchtend pinkfarbenen Haare stehen in alle Richtungen ab; auch sonst sieht er nicht aus, als hätte er letzte Nacht sonderlich viel geschlafen.

Er bemerkt meinen Blick, grinst mich an und streckt mir die Hand entgegen. "Hey. Ich bin Sven", stellt er sich vor.

Völlig überrumpelt starre ich die ausgestreckte Hand an. "Machst du dich gerade über mich lustig?"

Er runzelt die Stirn. "Wieso sollte ich? Ich dachte nur, dass wir hier noch etwa eine Stunde lang zusammen rumstehen. Und das jeden Monat. Da können wir uns auch gleich kennenlernen", erklärt er und klingt dabei wirklich ehrlich.

Als ich nichts sage, sieht er auf meine Füße herunter und meint trocken: "Wie kannst du mit diesen Dingern eigentlich laufen?"

Ich zucke die Achseln. "Pflichtkleidung", antworte ich knapp. Ich sage ihm nicht, dass ich mit diesen Dingern eigentlich gar nicht laufen kann. Ich sage ihm nicht, dass meine Füße brennen wie Feuer. Das geht ihn rein gar nichts an.

"Wow." Er verdreht die Augen. "Du bist ja wirklich gesprächig."

"Im Gegensatz zu dir ist für mich nicht das ganze Leben eine einzige Party", entgegne ich bissig. Warum muss der jetzt unbedingt mit mir reden?

Ich sehe ihm an, dass er zögert, sich nicht sicher ist, was er antworten soll. Ungeduldig werfe ich einen Blick auf meine Uhr; die Zeit vergeht viel zu langsam.

"Wie heißt du eigentlich?", höre ich da wieder Svens Stimme.

"Laura", antworte ich genervt. "Nummer 228."

"Laura." Er spricht den Namen aus, als sei er etwas Besonderes, kostbar. "Schön."

Ich antworte nicht. Beide Warteschlangen bewegen sich im Schneckentempo vorwärts, wenigstens hier werden die Pinken nicht bevorzugt. Wobei ich mir heute sogar wünschen würde, dass es so wäre. Dann müsste ich wenigstens nicht länger mit diesem Sven sprechen.

"Und, Laura" - es nervt mich, wie er meinen Namen ausspricht - "was machst du so, wenn du nicht darauf wartest, dein Essen abholen zu dürfen?"

"Sei jetzt nicht schockiert... ich arbeite!"

Er verschränkt die Arme vor der Brust. "Schon klar. Aber als was?"

"Ich entwickle Dinge." Ich tue etwas für unsere Gesellschaft, während du nur faulenzt und hier gerade eine unausgesprochene Regel verletzt, in dem du so laut und öffentlich mit mir sprichst. Als wäre das hier ein Date. Schon beim Klang des altmodischen Worts in meinem Kopf wird mir schlecht.

Die Leute drehen sich schon zu uns um, fragen sich, wieso hier eine Blaue mit einem Pinken spricht. Ich starre den Boden an, als könnte ich darin versinken.

"Und was zum Beispiel?" Er will einfach nicht locker lassen. Warum hält er nicht den Abstand von mir, den er halten sollte?

"Kannst du mich jetzt bitte in Ruhe lassen?", fahre ich ihn an. "Ich habe keine Lust, mit dir zu reden!"

Und vor allem will ich seine Frage nicht beantworten.


Verfälscht - Unsere FarbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt