05. Sonne und Mond

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Samstag kam und ging, aber Luhan, der blieb weg. Lija ärgerte sich über sich selbst. Darüber, dass sie keine feste Zeit ausgemacht hatten, keinen festen Ort. Sie war davon ausgegangen, dass er einfach zu ihr kommen würde. Ein ungezwungenes Treffen, welches entweder ein paar weitere erzwingen oder das letzte bleiben würde. Naivität war eigentlich etwas, was sie sich noch nie auf die Fahne hatte schreiben wollen. Oder können.

Sonntagvormittag zog wie rauchige Nebelschwaden an ihr vorbei, während der Tee in ihren Händen immer kälter wurde. Die Sonne ging auf, die Sonne stand am Himmel, die Sonne begann unter zu gehen. Gerade, als sie ihre große Liebe den Mond begrüßte und Lija wehmütig über diese grausame Liebesgeschichte nachdachte, klingelte es. Als erwachte sie aus einer langen Trance starrte Lija erstaunt auf den mittlerweile eiskalten Tee. Zog ihre Finger weg, als hätte sie sich verbrannt. Vielleicht war es ja Schicksal. Vielleicht durfte sie ihre Sonne auch nur in dieser bestimmten Phase sehen. Die, in der Tag und Nacht verschwimmen. Licht und Dunkel, Traum und Wirklichkeit. In diesem Dämmerungszustand schwebte Lija zur Tür. Es konnte nur der eine sein, weil in all der Zeit, in der sie nun schon hier lebte, niemals jemand geklingelt hatte. Sie öffnete die Tür.

Luhan hatte mit sich gerungen. Lange. Den ganzen, verdammten Samstag über. Im Blumenladen, im Supermarkt, im Schlaf. Er war zu keinem Ergebnis gekommen. Und trotzdem stand er jetzt vor ihr. Vielleicht sollte er sie einfach fragen, ob sie Eiswasser vertrug. Ob sie Lust auf ein Wettschwimmen hatte. Wer es länger schaffen könnte, über Wasser zu bleiben. Ein Spiel, bei dem es auf lange Sicht eigentlich nur zwei Verlierer geben konnte. Warum zum Teufel brannte Luhan dann so darauf, endlich zu beginnen?

Lija sah es in seinem Blick und auf einmal beschlichen sie Zweifel. Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Und während er dort darauf wartete, dass sie ihnen dampfende Teebecher brachte, begannen ihre Hände zu zittern. Wie war sie bloß auf die dumme Idee gekommen, sich jemandem anzuvertrauen? Jemandem, wie Luhan. Was zuerst nur prickelnder Beigeschmack auf der Zunge gewesen war, drückte ihr nun die Luft zum Atmen ab. Aus Nervenkitzel wurde Befürchtung, aus Freiheit Pflichtgefühl.

Samstag war vorübergezogen und mit ihm der Wunsch, sich mitzuteilen. Sie spürten es beide. Sie bedauerten es beide. Aber keiner von ihnen versuchte es zu ändern. Luhan begann mit banalen Smalltalkfragen. Es war ein Schritt zurück, ein gewaltiger, und trotzdem fühlte es sich richtig an. Luhan liebte Klassische Rockmusik und Lija einfach nur Klassik. Beide konnten mit Büchern nichts anfangen, obwohl Lija zugab Märchen zu lieben. Geschichten über Prinzessinnen und Prinzen, Hexen und Zauberern, Trolle, Zwerge, Wichtel, Elfen. Luhan lachte.

„Ich hasse solche Geschichten", erklärte er und stürzte den letzten Schluck Tee hinunter. „Sie sind unlogisch und ..." Er brach ab.

„Magst du keine Trolle und Zwerge und Wichtel und ... und Elfen?" Ehrlich bestürzt schaute sie ihn an. Er versank in großen dunklen Augen.

„N-nein", stotterte Luhan verlegen. „Ich ... weißt du, ich denke bloß, Menschen sollten in ihrer eigenen Welt leben und sich nicht irgendwelchen Hirngespinsten hingeben. Weil... weil die auch gut ohne sie klarkommen." Er lachte freudlos auf.

„Ich weiß, was du meinst." Verständnis lag in ihren Augen. Echtes Verständnis. Luhan war kurz davor, etwas zu sagen. Etwas zu gestehen. Da unterbrach Lija seinen hektisch fließenden Gedankenfluss. Weil sie auch etwas beschlossen hatte. Samstag war vorbei. Mond und Sonne hatten sich schon wieder verabschieden müssen. Lijas Chancen auf eine echte ... Romanze waren ebenso flüchtig. Liebe basiert nicht immer auf Vertrauen. Sie beschloss, es ihm trotzdem zu schenken.

„Soll ich dir mein Geheimnis verraten?" Lächelnd legte sie einen Finger an die blassen Lippen. Luhan nickte. Was blieb ihm auch anderes übrig? Ihr Lächeln wurde noch breiter, die Augen funkelten geheimnisvoll, als sie sich verschwörerisch zu ihm herüber beugte. „Ich bin eine Elfe", flüsterte Lija.

Erstaunt riss er die Augen auf. Betrachtete sie skeptisch. Das war ihr Geheimnis? Das war es, was sie ihm hatte anvertrauen wollen? Der Samstag? Sie konnte doch nicht wirklich...

„Wie meinst du das?"

Ihr schüchternes Lächeln wich einem ersten Blick.

„Genau so. Ich bin eine Blumenelfe." Ihre Unsicherheit war verflogen, wie Blüten im Wind. Das Geheimnis, das sie seit Jahren isolierte, würde für sich sprechen. Entweder er glaubte ihr oder er tat es nicht. Lija hatte die Entscheidung abgegeben. Endlich. „Mein Schicksalsfaden ist mit denen der Pflanzen in diesem Garten verknüpft", fuhr sie leise fort. Luhans Blick flößte ihr Sauerstoff ein, obwohl er in der Lunge brannte. „Wenn sie leben, lebe ich. Wenn sie sterben, sterbe ich. Wir sind auf ewig miteinander verbunden." Sie griff über den Tisch hinweg nach seinen Händen. Sie waren warm und groß. „Deswegen musst du mir etwas versprechen, okay?" Immer noch skeptisch nickte Luhan erneut. „Du musst mir versprechen, dass du niemals eine Blume aus meinem Garten pflückst. Du darfst sie hegen und pflegen und ... lieben ... aber niemals pflücken, okay?"

Der Mond regierte das Himmelszelt allein. Die Sonne war untergegangen. Es lag an ihr, wieder aufzugehen. Es lag an ihr, ob es eine Dämmerphase geben sollte.

Einen Moment lang schwieg Luhan. Wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Wie damit umzugehen war? Fragte sich, ob sie, er oder keiner der beiden verrückt war und ihre Geschichte doch irgendwo stimmte. Vielleicht waren sie auch beide verrückt.

„Okay."

Der Moment war vorbei. Er hatte beschlossen, dass es egal war. Verrückt oder nicht. Ihr Treffen war Schicksal. Lija war Schicksal. Und Luhan würde sich ihm ergeben. Prompt wich ihr ernster Gesichtsausdruck wieder dem kindlichen Kichern.

„Kleiner-Finger-Schwur?" Fragend streckte sie ihm ihren winzigen Finger entgegen. Sein Herz wurde weich. Er hinterfragte die Situation nicht. Manchmal ist es besser, einfach hinzunehmen ohne den Zauber zu zerstören.

„Kleiner-Finger-Schwur", wiederholte er und hakte sich ein. Ihre Finger waren schmal und kalt und überhaupt nicht wie die seinen. Sie passten gut zusammen, ihre Hände. Und es fühlte sich schön an, jemanden zu haben, dem sie vertrauen konnte. Lija wusste, dass Luhan ihr nicht hundert prozentig glaubte und sie verstand das. An seiner Stelle hätte sie auch gezweifelt. Wäre vielleicht weggerannt. Hätte ihn vielleicht für verrückt erklärt. Unzurechnungsfähig. Aber Luhan tat nichts dergleichen. Luhan blieb einfach da und lächelte. Ein warmes Kribbeln ging von der Stelle aus, an der sich ihre Hände berührten, breitete sich von dort aus, krabbelte ihren Arm hinauf, durchflutete ihren ganzen Körper in sanften Wellen bis in die Zehenspitzen, nistete sich in ihrem Herzen ein. Das Band aus Ranken du Seelensplittern wuchs und wuchs zusammen mit...

„Darf ich dir auch etwas zeigen?", flüsterte Luhan. Wenn Lija sich öffnete, musste er es auch tun. Sie hatten mit Zehn Schritten nach vorne begonnen und waren dann stehen geblieben. Es war wie ein Tanz. Sie hatten sich erst stürmisch nach vorn bewegt und dann einen Rückzieher gemacht. Waren ein bisschen auf der Stelle getrieben, nach links und rechts geschwankt und dann wieder nach vorne gewirbelt. Nein, nicht nach vorne. Nach oben. Lija war nach oben geflogen und er wollte folgen.

Lija nickte. Eine dunkle Strähne verrutschte dabei, fiel ihr unglücklich ins Gesicht. Eigentlich hatte Luhan ihr jetzt etwas anderes sagen wollen. Eigentlich hatte er etwas anderes tun müssen. Aber eigentlich könnte er das auch verschieben. Aufschieben. Weil etwas anderes dann plötzlich viel wichtiger wurde. Sein Gehirn setzte aus, sein Körper übernahm. Einfach so. Ein niedlicher, rosa Schimmer legte sich auf Lijas blasse Wangen, als er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr steckte. Als seine warmen Hände über ihre eisige Haut strichen, ihre Nase, ihre Stirn, ihren Mund.

„Was möchtest du mir zeigen?", hauchte sie, wandte schüchtern den Blick ab. Eigentlich nicht das hier, dachte Luhan während er sich immer weiter nach vorne lehnte. Eigentlich etwas ganz...

Seine Lippen legten sich auf ihre und jeder weitere Gedanke wurde im Keim erstickt. Das Spiel hatte gerade erst begonnen und schon begann Luhan zu schummeln.

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Wie Blüten Im Wind ○ Luhan ○Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt