07. Mittwoch

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Luhan strampelte. Wie ein Wasserballer trat er seit Tagen auf die Kälte um ihn herum ein, ohne sich von der Stelle zu bewegen und ohne unterzugehen. Der Gedanke an Lija schenkte ihm unermessliche Kräfte. Solange sie auf ihrem kleinen Floß aus weißen Rosen neben ihm trieb, war es in Ordnung. Solange er sich sicher sein konnte, dass sie nicht zu ihm ins Wasser müsste, würde es aushalten.

Sie trafen sich nun wöchentlich. Immer sonntags. Weil der Samstag vorübergezogen war und trotz allem nicht wiederkommen würde. Sie redeten über alles Mögliche. Nicht über Gott und die Welt. Weil Gott keine Rolle spielte, da wo sie sich befanden. Wenn sie zusammen im mittlerweile handhoch grünen Gras in Lijas kleinen Garten lagen, brauchten sie keinen Gott und keine Welt. Luhan brauchte bloß Lija und Lija brauchte bloß ihre Pflanzen. Glücklichsein bedeutete in den nächsten Wochen, Wolken betrachten und Geschichten austauschen. Luhan wurde sich von Treffen zu Treffen klarer über seine Gefühle. Mit jeder neuen Wolke verliebte er sich ein Stückchen mehr. Mit jedem kleinen Geheimnis, dass sie mit ihm teilte, wucherten die Ranken aus seinem Herz weiter zu ihr.

Lija begann ihn zu brauchen. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie einsam sie sich gefühlt hatte. Weil sie irgendwie vergessen hatte, wie es ist, jemanden zu haben, der einen anlächelt. Luhan tat das. Jedes Mal, wenn er sie sah. Sonntage wurden die Tage, auf die sie hinfieberte. Sonntag wurde der Wochentag, der synonym mit „Befreiung", „Glück" und „Luhan" verwendet wurde. Und eventuell auch „Liebe." Seit dem ersten Sonntag waren acht weitere vergangen, der Sommer hatte eingesetzt, aber sie hatten sich nicht wieder geküsst. Lija war aufgeblüht, wie die Blumen in ihrem Garten, sie hatte sich sicher und geborgen mit ihm gefühlt, aber sie hatten sich nicht wieder geküsst. Sie wusste, dass Luhan sie liebte – irgendwie. Sie wusste, dass sie ihn liebte – irgendwie. Aber sie hatten sich nicht wieder geküsst. Vielleicht, weil das Band zwischen ihnen mehr als bloß körperliche Nähe war. Obwohl sie sich bloß einmal in der Woche sahen, hatte Lija das Gefühl, ständig mit Luhan zu kommunizieren. Sie redete mit ihm, wenn er nicht da war und trotzdem schien er am darauffolgenden Sonntag ganz genau zu wissen, was sie ihm in seiner Abwesenheit erzählt hatte. Das Band aus Blumen und Seelensplittern zwischen ihnen wurde dicker, doch Lijas Ranken waren Glyzinien. Wunderschön, aber hochgiftig. Und Luhans Ranken waren Rosen. Wunderschön, aber voller Dornen. Je enger sie einander umschlangen, desto gefährlicher wurde es. Es war ein schöner Schmerz, dennoch tat er weh.

Und dann wurde es tödlich.

Es geschah an einem Mittwoch. Einem gottverdammten Mittwoch, weil Luhan irgendwie das Bedürfnis hatte, dem Sonntag einen Bruder zu geben. Lija freute sich. Hätte sich gefreut. Sonntag. Aber nicht Mittwoch. Sie öffnete die Tür erst nach dem dritten Klingeln. Sie hatte Luhan erzählt, dass sie beim Bäcker arbeitete. Mehrmals die Woche. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, neuerdings Samstag. Nur nicht Sonntag. Weil der Sonntag nicht Gott sondern Luhan gehörte. Und trotzdem stand er heute hier.

„Ich hoffe ich störe nicht", sagte Luhan und lächelte. Lijas Knie wurden weich, weil sie dieses Lächeln liebte. Auch, wenn er ein bisschen störte, sie hätte es ihm niemals gestehen können. Während Luhan ihr ins Wohnzimmer folgte, strich er sich die Haare aus dem Gesicht. Eine Geste, die er mittlerweile unbewusst ausführte, sobald er über die Türschwelle trat.

Die Julihitze verbrannte die Menschen auf den Straßen. Auch, wenn die riesige Tanne in Lijas Garten Schatten spendete, war es zu heiß. Ihre Blumen ließen die Köpfe hängen und Lija schwitze. Wie verrückt. Also blieben sie drinnen. Luhan fühlte sich wohl. Bereit, für etwas, was er nicht benennen konnte, aber ganz sicher nicht für das, was dann kam.

Zuerst war es nur der glasige Blick. Lija stand immer ein bisschen neben sich. Er schob es immer auf den Kreislauf. Vielleicht einen niedrigen Blutdruck. Irgendwo war dieses verpeilte Etwas an ihr auch ganz süß. Aber heute war es das nicht. Nur konnte er nicht genau sagen, woran das lag.

Dann waren da ihre Hände. Kalt und klebrig fühlten sie sich in seinen an. Er ließ sie wieder los. Lija lächelte. Lächelte durch ihn hindurch. Redete an ihm vorbei. Griff neben seine Hand. Griff neben den Tee. Vorbei an allem. Ihre Bewegungen waren langsam und mühevoll.

„Ich bin froh, dass du hier bist", sagte sie gedehnt. Ihre Stimme klang seltsam fern.

Das war der Moment, in dem er begriff.

„Nein", flüsterte Luhan. „Nein, das bin ich nicht."

„Doch", erwiderte sie und lächelte wieder durch ihn hindurch.

Sein Blick fiel aus dem Fenster, auf den Feenring. Vom Feenring wieder auf die fünfblättrige grüne Pflanze, Seite an Seite mit dem Asiatischen Elfensporn und der Palme. Sein Blick huschte durch das Zimmer und durch ihren Garten. Mit einem Mal ergab vieles einen Sinn. Vieles von früher, aber vor allem dieser Mittwoch. Lija nahm ihn wahr, aber nicht ernst. Sie hielt ihn für eine Einbildung, eine gottverdammte Halluzination. Er wusste nicht, ober er sich abgestoßen fühlen oder weinen sollte. Schließlich hatte er gewusst, dass sie mit ihm redete, wenn er nicht wirklich da war. Er hatte es gespürt. Warum hatte Luhan sich nur all die Wochen selbst übersehen?

Seufzend nahm er ihr den Tee aus der Hand. Sie ließ es geschehen. Ihre geweiteten Pupillen verfolgten ihn bis in die Küche. In der Spüle leerte er den Inhalt aus. Die aufgeweichten Kräuterreste wirkten abscheulich harmlos. Er ging zurück und holte seinen eigenen Tee. Es war derselbe. Luhan fühlte überhaupt nichts mehr.

Lijas Glyzinie hatte ihr Gift versprüht. Gegen ihn, aber hauptsächlich gegen sich selbst. Weil es bei ihm keine Wirkung hatte. Aber das konnte sie schließlich nicht wissen.

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Guten Abend allerseits :)

Ich hoffe, die Geschichte entwickelt sich nicht allzu verwirrend... Es fällt mir irgendwie zu leicht und bringt zu viel Spaß, sie zu schreiben, als dass ich nicht misstrauisch werden würde... ;) Also, wenn es irgendwelche unlogischen Unklarheiten gibt, sagt bitte bescheid!



Wie Blüten Im Wind ○ Luhan ○Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt