10. Ein Fünkchen Wahrheit

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Die Zeit steht. Die noch schwach glimmenden Fetzen der Blüten fliegen nicht mehr im Wind, sondern verharren in der Luft. Die fremden Männer frieren ein. Sie umringen Luhan und Lija wie eine Reihe merkwürdiger Wachsfiguren. Bis auf Lijas schwaches Husten und Luhans schnelles Atmen durchdringt kein Geräusch die Nacht, es ist unnatürlich still. Der rauchende Mann im Mond sieht teilnahmslos auf die kleinen Figuren hinunter. Vereinzelte Sterne blinzeln ihnen zu. Es ist wie in einem Theater. Ein Sommernachtsalbtraum. Zumindest für Luhan. Vorsichtig löst er sich aus den versteinerten Armen des Feuerwehrmannes. Blickt zum Mond und bittet in Gedanken um Verzeihung. Nach seiner Flucht vor seinem Vater schwor er sich, es niemals wieder zu benutzen. In dieser Nacht hat er den Schwur gebrochen.

Das schwächliche Husten verstummt vollständig. Luhan reißt sich vom Anblick des grell scheinenden Monds los. Langsam kniet er sich neben die blasse Gestalt am Boden. Lijas Augen sind zu starr auf das Himmelzelt gerichtet, ihr Mund ist leicht geöffnet. Die weiße Rose, die mit der alles begann, ist bereits vollständig verbrannt. Luhans Herz zieht sich zusammen, er wendet den Blick ab. Er muss sich nicht beeilen, die Zeit ist eingefroren, und trotzdem spürt er, wie die weltlichen Zwänge ihn weiterhin beeinflussen. An ihm haften bleiben, wie ein überstarker Magnet.

Bis eben haben seine Hände gezittert. Jetzt atmet er tief durch und wird ganz ruhig. Er streicht sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Ein unnatürlich heller Ansatz wird zum ersten Mal sichtbar. Er passt zu den hellen Wimpern und beißt sich ganz wunderbar mit den dunklen Augen. Dann steht Luhan auf und geht zu der weißen Rose. Sie ist nicht mehr stolz und ihr Duft verweht, aber die Blüten interessieren ihn ohnehin nicht. Ganz unten, knapp über dem Boden, sind noch ein paar Blätter dunkelgrün. Die hungrigen Zungen des Feuers lechzen bereits nach ihnen, aber auch sie sind eingefroren. Luhan pflückt drei Blätter und kniet sich wieder neben die tote Lija. Er schluckt hart.

Zwei Blätter für die Augen, eines für den Mund. Eine leise Melodie durchbricht die einsame Stille. Er singt ein Lied in einer Sprache, die so alt ist, dass sie schon vor Jahrhunderten in Vergessenheit geriet. Aber Luhan erinnert sich noch. An jede Sprache, an jede Sitte, an jeden Brauch. Das Schwarz weicht vollständig aus seinen weißen Haaren, seine Augen beginnen zu funkeln. Seine Stimme ist alt und jung zugleich. Schon viel zu lange hat er sich versteckt. Ein bitteres Lächeln umspielt seine Mundwinkel.

Mit einem Mal beginnen die Blätter zu Leuchten. Zu Glimmen und zu Glitzern, wie die angebrannten Blüten in der Luft und doch ganz anders. Weniger wild, weniger zerstörerisch. Langsam scheinen sie zu Sternenstaub zu zerfließen. Hinein in ihre Augen, hinein in ihre Lunge. Nur noch ein bisschen, dann wird Lija die Augen aufschlagen. Luhan weiß, dass er sie jetzt verlassen muss, diese Wirklichkeit. Es tut weh, aber Lijas schlagendes Herz ist es wert, jeden Schmerz in jeder Wirklichkeit zu ertragen. Das Leuchten wird heller und heller, das alte Lied lauter und lauter und dann...

... begann die Zeit wieder zu laufen. Die Wachsfiguren schmolzen, lebendiges Fleisch und Blut blieb übrig. Die brennenden Blüten tanzten wieder im Wind, Sirenen erklangen laut und schrill, die verbrannten Köpfe der weißen Rose fielen als Asche zu Boden. Lija atmete ein. Luhan war verschwunden.

○•○•○•○

Lija hetzte durch die Straßen. Drei Tage hatte man sie im Krankenhaus behalten. Dabei fehlte ihr doch überhaupt nichts. Man hatte ihr eine Reha angeboten, irgendwo auf dem Land, weit ab von allem. Dabei hatte sie doch überhaupt kein Problem. Niemals eines gehabt.

Lija fühlte sich frisch wie ein Neugeborenes. Das Leben hätte vor ihr liegen können, wie in einem kitschigen Disney-Film, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, gab es nichts mehr, was ihr Leben war. Niemanden, der es lebenswert machte. Niemanden zum Lachen oder Weinen oder Tanzen. Luhan hatte sie letztendlich doch verlassen. Sie hätte schwören können, dass er zu ihr gekommen war, ihr Märchenprinz. Durch die Flammen und durch die Asche. Sie hätte schwören können, dass er sie gerettet hatte. Mit einem wunderbaren Lied, mit überirdischen Licht und vielleicht sogar mit wiederentdeckter Liebe? Aber man erklärte ihr, niemand wäre dort gewesen. Nur die Feuerwehrleute und ein paar schaulustige Nachbarn. 

Drei Tage waren vorüber. Sie wurde entlassen. An einem Samstag. Lija erkundigte sich schüchtern im Blumenladen nach Luhan. Die streng aussehende Kassiererin schüttelte nur den Kopf.

„Luhan? Nein. So einen kenne ich nicht. Aber du siehst dünn aus, mein Mädchen. Isst du genug? Und sag mal, kennen wir uns nicht irgendwoher?"

Lija nickte kurz, dann floh sie wieder aus dem Laden. Ihre Gedanken kreisten nur noch um ihn, schon seit Tagen. Luhans melodiöse Stimme, Luhans dunkle Augen, Luhans warme Hand in ihrer, während sie im frischen Gras lagen und die weißen Wolken beim Spielen betrachteten.

Nichts zog sie nach Hause. Weil sie es abgefackelt hatte, weiß Gott womit oder wie. Lija war vielleicht frisch und neugeboren, aber Seelenlos. Weil ihre Seele irgendwo im wilden Feuer verschwunden war. Mitgenommen von einer wunderschönen Stimme in eine Welt jenseits ihrer Wirklichkeit. Lija war vielleicht frisch und neugeboren, aber leer. Zu taub, um Verzweiflung zu spüren, schleppte sie sich schließlich doch in ihr zu Hause zurück. Sie hatte kein Geld, um es zu renovieren. Die Wände hatten standgehalten, aber die Fenster, die waren explodiert. Zersplittert in tausend kleine Teile. Lija dachte an andere Splitter. Und warum sie diese nicht wiederfinden konnte?

Sie legte ihre Jacke über das verkohlte Gestell des alten Klappsofas. Scherben, Ruß und Verderben verdreckten den Boden. Leichen lagen herum. Ihre Leichen. Verkokelte, zerstückelte Überreste einer Wahrheit, die sie irgendwo zwischen dem überirdischen Licht und dem grell weißen Krankenhausbett verloren hatte. Die Welt um Lija begann sie zu drehen, sie hustete. Dann taumelte sie über zu weiche Watte nach draußen. In den Garten.

Ein Schlachtfeld. Ein einziges blutiges Desaster. Die riesige Tanne thronte als einsame Herrscherin über ein totes Land. Lija spürte die Übelkeit in sich aufsteigen, warm und klebrig.

Die Hecke zu den Nachbarn war hinuntergebrannt. Zum ersten Mal realisierte Lija, dass sie zwar allein, aber nicht unbeobachtet war. Seufzend lehnte sie sich gegen den verrußten Stamm der einsamen Herrscherin.

„Jetzt sind nur noch wir übrig, meine Freundinn", flüsterte sie ihr zu, umarmte den Stamm. Spürte das alte weise Leben dadurch pulsieren. Dann hörte sie etwas anderes.

„Lija."

Eine Stimme. Ganz nah und doch viel zu weit weg.

„Mein Herz."

Zu ihr getragen über ein Band, dass von ihrem Herzen aus ins Nirgendwo lief. Plötzlich waren auch die anderen Fäden wieder da. Das glitzernde Garn, welches sie vor drei Nächten gesteuert hatte, aber heute war Samstag. Endlich Samstag.

Ihre Glieder bewegten sich von selbst. Die einsame Herrscherin war alt und dick, aber irgendwie schaffte Lija es, den ersten Ast zu erreichen. Ab da war es ein Kinderspiel. Immer höher und höher zogen ihre dünnen Arme sie. Dem Himmel entgegen. Auf dem vielleicht letzten Ast, der noch stark genug war, sie zu halten, ließ sie sich schließlich nieder. Betrachtete erstaunt die Schrammen auf ihren Armen und Beinen. Sie hätte Schmerz spüren müssen, aber Hoffnung füllte ihren Körper bis in die Haarspitzen. Dort oben befand sie sich vielleicht fünf Meter über dem Boden. Vielleicht auch sieben, vielleicht auch zehn. Es war eigentlich nebensächlich. Die Erde besaß keine Anziehungskraft mehr, nur noch das weite blaue Himmelszelt mit ihrer strahlend hellen Sonne.

„Komm mit mir, mein Herz", säuselte der Wind dicht an ihrem Ohr. „Komm mit ins Reich der Elfen und Feen."

Vorsichtig richtete sie sich auf, soweit, dass sie ihren Kopf über die grünen Nadeln strecken konnte. Lija schloss die Augen und nickte.

„Ich vermisse dich, Luhan."

Sie dachte an ihre Mutter. Daran, dass sie nun doch noch einen Weg gefunden hatte, ihr zu folgen. Kleine Glückskäferchen krabbelten auf dem Band umher. Lija lächelte. Dann breitete sie ihre Arme aus und ließ sie sich in die seinen fallen. 


~ Finis.

Wie Blüten Im Wind ○ Luhan ○Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt