Aufbruch

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Fro steht da wie vom Donner gerührt.
Er soll der Auserwählte sein?
Er soll derjenige sein, der sich auf die lange und gefahrvolle Reise begeben muss?
Ausgerechnet er, der doch schon genug Kummer zu ertragen hat ...
Andererseits, was hält ihn denn hier zurück? Die Großmutter, der eine Mensch , den er aus tiefstem Herzen geliebt hat, ist gestorben. Er ist allein, überflutet von Trauer und Schmerz.
Und hat er nicht schon immer Neues entdecken, Wissen erfahren wollen?
Was also hält ihn hier?
Ja, natürlich hat er Angst vor dem, was da auf ihn zu kommen wird. Aber die Neugier, das spürt er, überwiegt die Furcht vor dem Unbekannten.
Seine Freunde würde er zurücklassen.
Das gibt ihm einen Stich ins Herz. Aber er hat ohnehin keine Wahl, und so strafft er seine Schultern und sieht dem Priester oben auf der Empore gerade ins Gesicht.

Der Priester beginnt zu sprechen. Das ist geradezu eine Sensation, denn seit Generationen hat kein Priester mehr zum Volk gesprochen. Große Gesten und dumpfe Gesänge, das ist eher ihre Art.
Doch nun ist das Licht da.
Nun ist alles anders.

"Du ...", sagt der Priester abgehackt und mit krächzender Stimme, "du ... bist der Auserwählte."
Fro schweigt.
"Du ... wirst gehen."
Die Hand des alten Mannes zeigt nach oben in Richtung DER BLUME.
"Finde ... das Volk ...auf DER BLUME ..."
Inzwischen ist es um sie herum leuchtend hell geworden. Die Wolken sind verzogen, das Licht überflutet alles, die Menschen saugen es geradezu auf.
"Geh ... in einer Stunde ... musst du aufbrechen!"
Der Priester hebt die Hand gen Himmel und beginnt erneut mit seinen dumpfen Gesängen.

Fro zuckt mit den Schultern und geht durch die Menschen hindurch in seine Hütte.
Dort lässt er sich erst einmal auf sein Schlaflager sinken und stützt sein Gesicht in seine Hände.
Ein paar Minuten der Ruhe, in denen sein Geist versucht zu verarbeiten, was in den letzten Stunden alles auf ihn eingeströmt ist.
Dann beginnt er, ein paar Dinge zu packen. Viel ist es nicht, was er in seine Jagdtasche aus robustem Leder legt. Etwas Proviant. Sein Jagdmesser. Feuerstein und Zunder. Ein Amulett aus Wegerichwurzel, das die Großmutter für ihn geschnitzt hat.
Er streicht mit der Hand über das Lager, die Schemel, die Truhe. Er verabschiedet sich von jedem einzelnen Teil in der Hütte.
Er sagt Lebewohl zu seiner Kindheit, seinem bisherigen Leben.
Als er schließlich aus dem schattigen Inneren der Behausung wieder ins Freie tritt, stehen die Menschen noch immer im Halbkreis versammelt.
Der Priester steht noch immer auf der Empore und Fro spürt seinen brennenden Blick.

Er wird sich nicht von seinen Freunden verabschieden. Es würde zu weh tun. Er rückt die Jagdtasche gerade, die er sich um die Schulter gehängt hat, und schickt sich an, das Dorf zu verlassen.
Kaum hat er jedoch den ersten Schritt getan, wird er am Oberarm zurück gehalten.
"Warte", sagt eine Stimme. Es ist Flo.
"Du gehst nicht allein. Wir kommen mit."
Flo ist neben ihm aufgetaucht, ebenso wie Lix. Auf seiner anderen Seite stehen Rian und Jak. Die Freunde.
"Das geht nicht, ihr könnt nicht ..." stammelt Fro.
Andererseits ... was ließen sie zurück?
Jak und Lix, beide sehr musikalisch, denen es nicht mehr genügt hat, die alten, überkommenden Rhythmen im Tempel zu spielen. Sie hatten sich selber Trommeln und Klangschalen aus Wurzelholz geschnitzt, und neue Klänge ausprobiert.
Der Priester hat es ihnen verboten, hat ihnen die Instrumente wegnehmen lassen und ihnen untersagt, jemals wieder neue herzustellen. Auch dürfen sie den Tempel nicht mehr betreten, was für Jak heißt, dass er, der so wunderbar malen kann, nicht mehr an der Pflege der herrlichen Zeichnungen der Prophezeiung arbeiten kann.
Oder Rian, der die Liebe seines Lebens in M'lissa gefunden und gleich wieder verloren hat. Die junge Frau ist gegen ihren Willen zum Tempel gebracht worden und ist nun "Tänzerin des Lichts". Als solche darf sie keinen Gefährten nehmen. Sie darf den Tempel nicht verlassen, Rian darf ihn nicht betreten.
Und zu guter Letzt Flo, der übersprudelt vor Wissbegierde; ihm ist ihre Welt zu klein. Er hat den Legenden gelauscht von anderen Völkern unter anderen Blumen. Er wollte sie sehen, also hat er sein Bündel geschnürt und das Volk hinter sich gelassen. Er war zurück geholt und in Fesseln gelegt worden. Er darf den Kreis der Hütten nicht mehr verlassen, nicht mehr mit den anderen auf Jagd gehen ...
Was also würden sie hinter sich lassen, außer Kummer und fehlender Freiheit?
Fro packt also seine Tasche fester, sieht seine Freunde voller Stolz und Dankbarkeit an und sagt:
„Gut, dann lasst uns aufbrechen!"
Und gemeinsam machen sie sich auf den Weg.

Der Priester sieht der Gruppe hinterher, wie sie langsam in Richtung Dorfausgang zieht.
Es ist nicht geplant, dass der Auserwählte nicht alleine auf die Reise geht. Es ist nirgends verzeichnet, dass er Begleiter haben würde.
Ein Wink von ihm würde genügen um dem Einhalt zu gebieten.
Die Menschen würden die Freunde des Auserwählten packen, fesseln und in ihre Hütten sperren.
Doch ... sollte er das tun?
Es gibt dazu nichts in den alten Aufzeichnungen, er muss also selber eine Entscheidung treffen. Und er muss es jetzt tun.
Er schließt die Augen und lässt das alles umflutende Licht in sich wirken.
Und dann beschließt er, sie ziehen zu lassen.
Das Volk würde mit ihnen ein paar kluge Kopfe, ein paar begabte Leute verlieren.
Aber auch renitente junge Leute, die nur Unruhe stiften und die althergebrachte Ordnung nicht anerkennen. Es würde nicht gut sein, sie zurückzuhalten.

Und tief unten im Grunde seines Herzens regt sich ein lange vergessenes Gefühl.
Auch er ist in seiner Jugend so gewesen. Er hat hinterfragt und sich lange nicht damit abfinden können, dass man ihn gegen seinen Willen in den Tempeldienst gezwungen hat.
Er seufzt.
Ja, er lässt sie also ziehen. Auch, weil er ein wenig Mitleid hat mit dem Auserwählten.
Denn er kennt als einziger die letzte Zeile der Prophezeiung.
Niemand außer ihm weiß davon. Und auch er wird, wie Generationen von Priestern vor ihm, erst auf seinem Sterbebett seinem Nachfolger davon erzählen.
Diese letzte Zeile lautet:
„Der Auserwählte wird nicht zurückkehren. Sein Körper wird den Tod finden."
Er seufzt erneut, dreht sich um und geht gemessenen Schrittes zurück in den Tempel.

Fro und seine Freunde gehen langsam durch die Menschen hindurch. Als sie das Dorf hinter sich gelassen haben, fällt eine erdrückende Last von ihnen ab.
Denn auch wenn die Zukunft für sie ungewiss sein mag, ist sie doch voller Möglichkeiten.
Voller Hoffnung.

Das Volk unter DER BLUMEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt