Frohe Kunigunde - Das Abnehmcamp

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Wieso war mir eigentlich nicht gleich klar gewesen, dass sich das folgende Schuljahr seelisch gesehen auf dem Grausamkeitslevel eines Justin Bieber gepaart mit Godzilla und einer Prise Horroclown befinden würde? Und warum hatte ich nicht damit gerechnet, dass es bereits lange vor dem gefürchteten ersten Montag nach den Sommerferien gewaltsam auf sich aufmerksam machen würde?
Bei mir, Nina-Hedwig-Ruth von Daalem, ja, ein Name, der für gewöhnlich trotz oder gerade aufgrund seiner irrwitzige Länge und Absurdität im Gedächtnis blieb, war diese Groschen einmal wieder zu spät gefallen. Ich realisierte diese beiden Tatsachen, als ich an der Seite meiner besten Freundin Lara Schmidt – gewisse Gegensätze unserer Persönlichkeiten werden durch die bloße Konnotation ihres Namens bereits vage angedeutet – auf einer schäbigen, grauen Wolldecke vor der schlechten Parodie eines Lagerfeuers im Camp hockte, und wortwörtlich auf besseres Wetter wartete: Es begann nämlich gerade, zu regnen. Hätte es sich um ein gewöhnliches Feriencamp gehandelt, ein sehr beliebtes Ziel meiner Mutter zu Beginn der Feriensaison, nur, um sich endlich von der Dauerbelastung durch ihre sechzehnjährige Tochter loszusagen, um dann mit dem nächstbesten Kanadier auf die Malediven zu verschwinden, hätte ich meine trostlose Situation als Routine betrachtet. Obwohl ich den Kontakt zu sogenannten Gleichaltrigen, ein Euphemismus für lebensverachtende Lebensformen in menschlicher Gestalt, die mir aus direkter Nähe auf sadistische Weise Schaden zufügen, am Liebsten vermied, konnte ich mich meistens durch meine Angewohnheit, mich als Unbekannte sprichwörtlich in Luft aufzulösen, davor drücken. Was mich diesmal allerdings gehörig aus der Bahn warf, war die Tatsache, dass sich dieses selbsternannte Camp nur aus Menschen zusammensetzte, die ich allesamt verabscheute, und bei denen ich nicht einfach so tun konnte, als wäre ich nicht anwesend, weil sie mich alle kannten: Der gesamte Abschlussjahrgang der West Hight School, dem ich zufälligerweise angehörte, umzingelte mich, mein Zelt, meine zwei Handys und meine beste Freundin – Und Kunigunde leitete den ganzen Spaß.
Für außenstehende, nicht eingeweihte Personen war der vorherige Satz lediglich ein semantisch solider und grammatikalisch nicht besonders anspruchsvoller Hauptsatz, über mich jedoch brach bei der Realisierung dieses Faktums die Hölle herein. Wobei, in der Hölle steckte ich bereits seit meiner Einschulung. Vielleicht war ich ihrem brodelnden Lavakern einfach wieder ein Stückchen näher gekommen. Der Teufel höchstpersönlich, oder mindestens einer seiner Avatare, hatte seine Hände im Spiel gehabt.

„Hast du die Lebensmittelwaage für meine Cola gesehen? Und hast du die neuen Schokoflakes gekauft? Da sind Starwars-Schlüsselanhänger in der Packung versteckt." Ich sah von unserem gefliesten Fußboden auf. „Mum, was zum..." Mir blieben die letzten Worte im durch einen überdimensional großen, gestrickten Schal vor der Dezemberkälte geschützten Hals stecken. Als ich in meiner pinken Rüschenunterwäsche und den blau gestreiften Wollsocken in die Küche gelaufen war, um mir ein Glas stilles Wasser mit einem Teelöffel Cola zu genehmigen, hatte ich, neben der Tatsache, dass ich halbnackt war, absolut vergessen, dass sich aristokratischer Besuch angekündigt hatte, im wahrsten Sinne des Wortes aristokratisch. Petunia und ihre widerliche Tochter Kunigunde First – hier wären wir wieder bei der semantischen Übersetzung von Namen – waren gerne die Ersten, und zwar in allem, was sich synonym zu den Adjektiven grausam, oberflächlich, widerlich und geldgeil verhielt. Intellekt war auf dieser Liste an vorletzter Stelle mit weichem Bleistift in unleserlicher Schrift hingeschmiert worden. Zuletzt stand dort jedoch das Wort taktvoll. „HEDWIG! Ich bin ja so froh, dich wiederzusehen!", rief Petunia, deren Nachname auch Dursley hätte sein können, und pflanzte sich schneller, als ich rennen konnte, vor mir auf. Verlegen schüttelte ich ihr die frisch manikürte Hand und hoffte einfach nur, dass sie in den letzten zwei Stunden nicht mit ihrem Mann intim geworden war. Kunigunde folgte dem Beispiel ihrer Mutter, wenn auch deutlich zurückhaltender als sie. Sie hauchte mir einen flüchtigen Kuss auf beide Wangen, als hätte sie ähnliche Übertragungsängste vor mir, wie ich vor ihrer Mutter, und ich sah die Heuchelei in ihrem Gesicht als Lächeln Gestalt annehmen. „Ich freue mich auch total.", bekräftigte sie Petunias Meinung. Ich lächelte aufrichtig zurück und hörte meine Lippenmuskulatur unter der Anstrengung quietschen. „Sieh mal, wir haben hier etwas für dich.", die beiden flatterten zurück zu unserer Couch, auf der auch meine Mutter saß, deren Blick ganz verzaubert an Kunigunde klebte, die einfach zu allem, was Mami einfiel, nur Ja und Amen sagte, und noch dazu so natürliche Proportionen und Gesichtszüge wie eine Barbie besaß: Ihr nie in Erfüllung gegangener Traum einer perfekten Tochter. Ich räusperte mich laut. „Was ist es denn, wenn ich fragen darf?", antwortete ich schnippischer, als ich wollte. Wenn ich es einfach hinter mich brachte, waren die beiden schneller wieder verschwunden. „Sieh mal, Schätzchen." Petunia kramte ein zerknittertes Formular aus ihrer Brusttasche hervor. Als sie es mir vorlegte, verschlug mir bereits die Überschrift sämtliche Lust auf stilles Wasser mit Cola in absehbarer Zukunft. „Ein Abnehmcamp! Ganz exklusiv für euren Jahrgang der West Hight! Meine Tochter möchte sich im kommenden Sommer für das Wohl bedürftiger Jugendlicher einsetzen" Kunigunde nickte übertrieben und hob ihr gepudertes Näschen. Ihre eigentliche Intention, das Bloßstellen ganz bestimmter, leicht übergewichtiger Mädchen vor dem gesamten Jahrgang, war mir längst klargeworden. „und hat sich deswegen dafür entschieden, ein Camp zum Abnehmen und fit werden zu leiten.", schloss Petunia ihren Einleitungssatz mit stolz geschwellter Brust. „Aber das stand doch bloß in den Bewerbungsauflagen für mein Studium, Mami?", unterbrach sie die sichtlich verwirrte Kunigunde, und ich musste wider Erwarten über so viel Dummheit grinsen, wenn auch etwas gequält, nachdem die beiden wassersoffhaarigen Glitzersteine mich als fett und bemittleidenswert bezeichnet hatten. „Ich habe doch gesagt, ich rede!", fauchte Petunia in Kunigundes Richtung, die sofort wie ein Sack Mehl in sich zusammenfiel, was wohl als Zustimmung gelten sollte. „Entschuldige bitte, sie ist ja noch so jung." Das jung hätte genauso gut dumm heißen können. „Und wir haben nur noch einen einzigen Platz frei, und weil ihr beide ja so gut befreundet seid," Bitte nicht. „hat Gündchen auf Teufel komm raus gebittet und gebettelt, dass dieser Platz dir zuteil werden kann. Du hast es ja schon nicht leicht." Dass mich Petunia bei ihren letzten Worten von oben bis unten mit Du-armes-Mädchen-Blicken überzog, fiel mir schon gar nicht mehr auf. Ab dem wohl groteskesten Kosenamen, den eine Mutter ihrer Tochter in der Geschichte der Menschheit wohl jemals gegeben haben würde, hatte ich meine Ohren auf Durchzug gestellt, und entschieden, dass ich auf keinen Fall irgendetwas unterschreiben wollte, was in Besitz dieser Sorte Mensch war. Petunia drehte sich wieder zu mir um, doch ich war bereits aufgestanden und hatte eine solide Distanz zwischen der Couch und mir hergestellt. „Nein, ich muss mich entschuldigen. Es tut mir wirklich leid, dass Sie den ganzen Weg hierher umsonst gekommen sind." Ich kniff die Augen zusammen und fokussierte zuerst Petunia, die offensichtlich von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte, und dann Kunigunde, der der Hohn ins Gesicht geschrieben stand. So viele Lügen hatte ich selten in so wenig Zeit gehört, ich brauchte dringend eine Pause. „Ich werde nicht in dieses Abnehmcamp gehen. Das tut mir zwar, wie gesagt, fürchterlich leid," Innerlich tanzte den Freudentanz meines Lebens. „doch ich habe im Sommer keine Zeit dafür." Ich dachte an die endlosen Stunden der Langeweile, die der Sommer Jahr für Jahr für mich parat hielt, und seufzte innerlich über diese klägliche Lüge, doch ich unterdrückte die Versuchung, in Selbstmitleid zu versinken. Es war mir egal. Hauptsache, dieser blonde Haufen Make-Up bekam nicht erneut die Gelegenheit, ihre berühmt-berüchtigten Grapscher einmal mehr nach meinem labilen Teenie-Leben auszustrecken. In der Vergangenheit hatte Kunigunde oft genug bewiesen, dass sie aus keinem anderen Grund als purer Bosheit darauf aus war, meine Existenz nachhaltig zu sabotieren. Dieses Abnehmcamp war nur die Spitze des Eisberges, doch diesmal würde ich den Schüssen ihrer mit geradezu krankhaft kreativen Demütigungsattacken geladenen Waffe entkommen.
Gerade als ich mich zum Gehen gewandt und fest damit gerechnet hatte, Kunigunde einen Strich durch die verlogene Rechnung gemacht zu haben, wälzte die vierte Anwesende im Raum sämtliche Überlegenheit meinerseits um: „Ich gehe hin!", rief meine Mutter kurzerhand aus, die wahrscheinlich ihre große Chance auf eine zweite Jugend witterte, und fragte Petunia, die sichtlich zufrieden damit war, ihr Formular doch noch an den Kunden gebracht zu haben, wo ihre Unterschrift zu setzen sei. Bevor dieses Desaster meinen sozialen Ruf vom Kellergewölbe in den Mittelpunkt des Erdkerns verlagern konnte, riss ich erstaunlich schnell die Wohnzimmertür auf und brüllte mit einer Verzweiflung in der Stimme, die ohne Weiteres filmreif war: „ICH UNTERSCHREIBE!!!"

Nun saß ich also hier, mitten im Wald, neben Lara, die sich im Gegensatz zu mir nicht einmal einreden konnte, dass ihr Aufenthalt hier einen Sinn hatte (während ich ruhig drei oder vier Kilogramm verlieren durfte, war sie seit ihrem zwölften Lebensjahr Ernährungsexpertin und selbsternannter und trotzdem erfolgreicher Fitnesscoach), sondern nur für mich einen Sommer unter kunigundischer Herrschaft ertrug, und war in meiner Verzweiflung froh darüber, meiner Mutter die Teilnahme an dieser neuen Attraktion der irdischen Vorhölle ausgeredet zu haben. Das wäre nichts für ihre schwachen Abwehrkräfte gewesen. Es gab hier niemanden, den ich nicht kannte, und der die Anwesenheit meiner Mutter nicht audiovisuell dokumentiert hätte – Zur Belustigung aller außer mir. Es gab keine Privatsphäre und Handys waren theoretisch gesehen nicht gestattet. Und, und das war der Knackpunkt an der ganzen Chose, der mir einen grauenhafteren Sommer versprach, als jeder bislang dagewesene: Zwischen mir und den anderen befand sich ein tiefer Abgrund aus Hass, Differenzen und Tötungsfantasien, der sich in diesem Leben nicht mehr schließen würde.


Ernst des Lebens incoming! ...Oder so.Where stories live. Discover now