Alles wie immer - Eigentlich wollte er nur einen Anzug kaufen

9 0 0
                                    


„Hallo. Kann ich Ihnen helfen?", fragte sie lächelnd, und sah mich auf eine Art und Weise an, die nichts mit freundlicher Beratung, sondern eindeutig mit der Vorstellung an ganz andere, abendfüllende Aktivitäten zu tun hatte. Leider hatte ich bereits andere Pläne für das Wochenende und überließ nur allzu gern wichtigeren Gedanken den Vortritt in meinem Kopf, bevor aus den bis dato vorhandenen verstörendes Kopfkino entstehen konnte.
„Ich suche einen Anzug für eine Hochzeit. Möglichst schwarz. Und unauffällig." Bereits während ich antwortete, wirbelte ich satellitenschüsselartig im Kreis umher, um mich einer freundlichen Beratung schnellstens entziehen zu können, musste mich jedoch angesichts der gegenwärtigen Massenansammlung von Kleidung um mich herum geschlagen geben, und tatsächlich die kostenlose Hilfe dieser eventuell genauso kostenlosen Verkäuferin in Anspruch nehmen. Sie blinzelte überrascht, vielleicht hatte sie tatsächlich mit einer Reaktion auf ihre plumpe Anmache gerechnet, aber das war mir egal. Ich wollte einen Anzug kaufen und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden.
„Ja, wir haben auf jeden Fall etwas Passendes für Sie." Die Art und Weise, wie sie Passendes betonte, ließ mich die Distanz zum nächsten Mülleimer grob überschlagen. „Gerade letzte Woche ist eine neue Kollektion eingetroffen, die sich wirklich gut verkauft und eine schicke Figur macht."
Genervt verdrehte ich die Augen, jedoch blieb mir keine andere Wahl, als der Verkäuferin, die im Übrigen Frau Sust hieß, einmal quer durch den Laden in den hinteren Flügel zu folgen, wo sie mir eine der Kabinen zuwies und selbst in dem Urwald aus Kleidern, Hemden und verschnörkelten Gürtelschnallen verschwand, um mir einen schwarzen, unauffälligen Anzug zu besorgen. Gott sei Dank.
Ich drückte die Klinke hinunter und trat ein in das, was Frau Sust ganz beiläufig als Kabine bezeichnet hatte. Dass es sich hierbei um einen etwa zehn Quadratmeter großen, komplett verspiegelten Saal mit einer Tageslichtlampe an der Decke und vergoldeten Kronleuchtern an den Seiten handelte, musste ihr bei ihrer sonst absolut treffenden Beschreibung wohl entfallen sein. Ich war kurz von den übernatürlichen Ausmaßen dieser Kabine überwältigt, beschränkte meine Hinweise diesbezüglich an meine Außenwelt jedoch auf ein stummes, kurzes: „Oh."
Ich wollte schließlich einen Anzug kaufen und nicht die Innenausstattung der Kabinen bewerten.
Weniger erfreut war ich, als ich plötzlich von oben bis unten durchnässt war.
„Oh, fuck!", hörte ich eine weibliche, piepsig hysterische Stimme gerade noch fluchen, bevor ich spürte, wie mich ein dicker Wasserstrahl traf, mich mit einem Krachen an die Spiegelwand drückte und erst nach einigen Augenblicken des fast schmerzhaften Bewässerns von mir abließ. „Es tut mir so leid!" Die Frau, die in ihren ebenfalls nassen Händen den Schlauch einer Wasserpumpe hielt, stand jetzt unmittelbar vor mir und rieb mir mit einem weißen Handtuch ziemlich verzweifelt in den Haaren herum. „Hören Sie auf!" Verärgert stieß ich sie von mir, öffnete langsam die Augen zu Schlitzen und drehte mich zum nächstbesten Spiegel um, um die Katastrophe und meine Handlungsoptionen grob einschätzen zu können. Es war nicht ganz so schlimm, wenn man davon absah, dass meine sonst sehr geordnete Frisur der von Albert Einstein ziemlich ähnelte, und mein Hemd vor Wasser triefte und ein Knopf meiner Jeans verschwunden war.
„Das war ein Missverständnis, ich wollte wirklich nur kurz die Spiegel reinigen, ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie dort drin waren, sonst hätte ich nicht..."
„Ist es wirklich so abwegig, dass Sie Kunden haben?", schnauzte ich die arme Frau an, und als ich mich ihr zuwandte, hoffte ich, dass in meinen Augen das metaphorische Weltende lag und über sie hereinbrechen würde. Ihr Blick traf für einen kurzen Moment den meinen, und ich hatte das Gefühl, dass diese Augen mir irgendwo schon einmal begegnet waren. Sie waren dunkelgrün und geradezu monströs geweitet, was jedoch auch daran liegen konnte, dass das Mädchen, sie war nicht älter als zwanzig, vor Angst bibberte. Ich stellte, unzufrieden mit mir selbst, fest, dass ich zu hart zu ihr gewesen war, und ersetzte den Ausdruck von blankem Gotteszorn durch einen der säuerlichen Milde und Vergebung. Sie war ja auch nur ein Mensch.
„Entschuldigen Sie, ich hätte Sie nicht so anschreien sollen, Frau..?"
„Block. Ich heiße Tania Block.", antwortete sie schneller, als ich erwartet hatte, und tat so, als würde sie den nun durchnässten Teppich zu ihren Füßen studieren. Ich beschloss, dass Tania Block vermutlich gar kein so ein schlechter Mensch war, wie die Tatsache, dass sie unter einer Frau Sust in diesem Brautmodengeschäft arbeitete, vermuten ließ. „Freut mich sehr, jedenfalls tut es mir leid.", schloss ich diese äußerst herzliche Entschuldigung und deutete eine Verbeugung an. Eine Angewohnheit.
„Ach du meine Güte, was ist denn hier passiert?!" Ich rollte bereits mit den Augen, als Frau Sust ihren ersten Ausruf zu Ende gebracht hatte, und dankte ihr innerlich für ihr grandioses Taktgefühl und dezentes, deeskalierendes Auftreten. Tania Block, die nun vor ihrer Vorgesetzten metaphorisch zu einer Liliputanerin zusammengeschrumpft war, sah hilfesuchend zu ihrer Wasserpumpe hinüber, als sei diese allein für den angerichteten Schaden verantwortlich, und erklärte mit zitternder Stimme und fast ausschließlich unter Verwendung von Wortfetzen, wie ungefähr zumindest sich der Unfall ereignet hatte. Ich stand neben ihr und nickte mehrere Male zustimmend, der einzige Beitrag, den ich zu diesem Szenario leisten konnte, ohne sie ganz offensichtlich zu verteidigen. Am Ende ihrer Ausführungen schaffte ich es schließlich, Frau Sust ins Wort zu fallen, bevor diese überhaupt zu sprechen beginnen und so weiter Panik verbreiten konnte. „Ja, ich weiß, es ist eine schreckliche Unordnung und vermutlich Sachbeschädigung im Wert von mehr als fünfhundert Euro. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, meine Versicherung kümmert sich selbstverständlich darum." Kurz schmunzelte ich, weil ich mir ziemlich sicher war, dass es keine explizite Versicherung gegen versehentliche Überflutung im Bereich der Textilien gab, und ich schon gar nicht im Besitz einer solchen war, log aber weiter, bevor Frau Sust etwas einwenden konnte. Ich nahm ihr die Anzüge ab, die sie die ganze Zeit über über ihren Arm gehangen hatte, begutachtete sie prüfend und warf Frau Sust dann ein unwiderstehliches Lächeln zu. „Ich danke Ihnen vielmals für die Anzüge. Ich werde diese nun anprobieren und dann bezahlen." Das Wort bezahlen betonte ich so, dass es genauso gut hätte Waffenlauf oder Maschinengewehr sein können. „Und bitte seien Sie nicht zu streng mit Ihrer Praktikantin." Dann verschwand ich in meiner Kabine.
Am Ende des Tages hatte ich schließlich einen schwarzen, unauffälligen Anzug gekauft, weitere unbeglichene Schulden auf einem fremden Konto hinterlassen und eine Verabredung mit einem tollpatschigen Mädchen, das, wie ich am selben Abend herausfand, nicht einmal single war. Nichts deutete darauf hin, dass ich weder Geld, noch Einfluss im objektiven Sinne hatte, doch wie jedes andere Mal schaffte ich es irgendwie, mich aus diesem Sud aus Schwierigkeiten herauszumanövrieren. Es war also alles wie immer.  

Ernst des Lebens incoming! ...Oder so.Where stories live. Discover now