Kapitel 1

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Kapitel 1

 Der Regen prasselte das Fenster entlang. Die einzelnen Tropfen liefen herunter und ich beobachtete ihren Weg ganz genau, als hätte ich nichts anderes zu tun. Ich stand, besser gesagt, ich saß in meinem Rollstuhl vor einer großen Fensterscheibe in einem Londoner Appartement. Während meine Mum sich im Badezimmer mit der Maklerin besprach, ob denn auch die Dusche groß genug wäre, für einen Duschstuhl für mich, beobachtete ich den Regen und schaute nach draußen. Von hier aus konnte man genau auf einen Park gucken. Allerdings war es kein schöner Anblick.  Der Rasen sah matschig aus von dem vielen Regen und der Park sah ziemlich verlassen aus. Es spiegelte meine Gefühle zurzeit wieder. Seit dem Unfall vor einem halben Jahr war alles anders. Meine Mum war nun noch gestresster und bemühte sich schon seit Wochen eine barrierefreie und geeignete Wohnung für uns zu finden, die trotzdem in Stadtnähe lag. Mein Vater war ihr dort keine große Hilfe. Sie waren schon seit einem Jahr getrennt, und derzeit lebte er mit seiner neuen Freundin, Carla, in New York. Hätte er mich nicht für einen Tag mal kurz im Krankenhaus besucht, nachdem es passiert ist, könnte ich sogar davon ausgehen, dass er es noch nicht mal wusste. Seufzend beobachtete ich einen einsamen Jogger, der gerade im Hyde-Park seine Runden drehte. Vor dem Unfall war ich jede Woche mit meiner besten Freundin Zoey walken gegangen. Dann hatten wir uns immer gegeneinander von unserer Woche erzählt und dabei Kalorien verbrannt. Obwohl Zoey es gar nicht nötig hatte, denn egal wie viel sie aß, sie nahm nie zu. Durch den langen Krankenhausaufenthalt war auch ich ziemlich dünn geworden, ja sogar erschreckend dünn. Bei dem Gedanken an meine beste Freundin musste ich schon wieder seufzen. Sie hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet. Genauer gesagt, vier Wochen war es her, dass sie mir eine kurze SMS schickte, in der stand, dass sie Abstand brauchte, um alles zu verarbeiten, und dass es ihr total leid tue. Sie fühlte sich verantwortlich, was mit mir geschehen war, schließlich war sie die Fahrerin gewesen. Als sie mich nach dem Unfall besucht hatte, konnte ich es in ihren Augen lesen. Ich kannte sie schon, seit ich 10 Jahre alt war, deswegen war es für mich ein Leichteres, ihre Gefühle zu erkennen. Und als sie mich so angeschaut hatte, konnte ich statt Freude darüber, dass ich es überlebt hatte, oder Verständnis, dass ich es nicht zurück auf die Beine geschafft hatte, einfach nur Mitleid und grenzenlose Schuld lesen. Vielleicht war es für uns beide ganz gut, uns mal für eine Weile nicht zu sehen, denn Mitleid brauchte ich nicht. „Ashley?“ Meine Mutter kam wieder ins Wohnzimmer des Appartement, die Maklerin im Schlepptau. „Wie findest du es hier?“ Sie strahlte mich an, und deutete mit der Hand auf das große Fenster, vor dem ich saß. „Ist diese Aussicht nicht wunderbar? Und so zentral. Du kannst ohne Probleme in die Stadt oder  dich mit Freunden treffen…“ Sie verstummte. Ja, selbst meine Mutter hatte es schon eingesehen. Freunde hatte ich nicht mehr.  Entweder waren sie zu entsetzt mit der Situation und kamen damit nicht klar, oder sie meinten, sie würden mir seelisch wehtun, nur weil sie laufen können und ich nicht. Deswegen wurden Aktionen wie Schlittschuh-Laufen oder Party machen ohne mich geplant, und ich saß stattdessen nur Zuhause in meinem Zimmer und surfte im Internet. Nachdem meine Mum verstummt war und mich traurig anblickte, herrschte Stille im Raum. Man konnte die Geräusche von der Straße unten hören, die Autos, die Menschen und der Regen, der immer noch gegen die Scheibe prasselte. „Nun“, versuchte die Maklerin die Situation zu retten, „ich denke, diese Wohnung wäre wirklich passend für Sie“ Sie lächelte mich dabei künstlich an, wobei ihr roter Lippenstift etwas verwischte. Meine Mum sah mich hoffnungsvoll an. „Ist das ok, für dich Spätzchen, wenn wir sie nehmen?“ Sie sah mich dabei so hoffnungsvoll an, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihr zu sagen, was ich wirklich fühlte. Alles in mir schrie danach, dieses Appartement so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Es erinnerte mich zu sehr an mein altes Leben, die Stadt war mir zu nahe, ich musste jeden Tag den verdammten Hyde-Park angucken und ich hörte die fröhlichen Menschen auf den Straßen, die Spaß hatten und ihr Leben genießen.                                                      

„Klar“, sagte ich und lächelte gezwungen, „ist doch super hier!“

Unconditionally ♥Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt