Kapitel 2

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Kapitel 2

„Und hier hätte ich gerne das Sofa stehen“. Ich deutete mit meiner Hand auf die eine Ecke meines neuen Zimmers, an dessen weißen Wand bis jetzt nur eine Fotographie von New York hing. Mein Vater hatte es mir geschenkt, nachdem er dorthin gezogen war, mit der Meinung, nun wäre ich immer bei ihm in Gedanken. Hm, ist klar. Als ob ein Bild meinen Vater ersetzt. Eigentlich mochte ich dieses Bild noch nicht mal, aber weil meine Wand sonst viel zu kahl aus sah, hatte meine Mutter es für mich hingehängt. Die zwei Möbelschlepper, die uns die Maklerin empfohlen hatte, schleppten ohne mit der Wimper zu zucken, mein rotes, kleines Sofa ins Zimmer. Ich saß in meinem Rollstuhl in der Mitte des Raumes und fühlte mich nutzlos und fehl am Platz. Alle um mich herum, also Freunde von meiner Mum und Möbelschlepper, hatten etwas zu tun und halfen Sachen auszupacken und in Regalen einzuordnen, während ich nur da saß und zuschaute. „So ok?“, fragte mich ein Mann, nachdem sie das Sofa abgestellt hatten. Schweiß glänzte auf seiner Stirn und ich musste daran denken, wann ich mich zum letzten Mal körperlich richtig ausgepowert hatte. Klar, ich hatte jede Woche mehrmals Pysio-Therapie. Zum Glück, denn deswegen konnte ich nun selber aufs Klo und brauchte nur noch wenig Hilfe beim Anziehen. Durch meinen Unfall wurden zwar meine Beine unbeweglich, aber nicht mein Oberkörper und meine Arme. Täglich machte ich nun in meinem Zimmer Kraftübungen, um in den Oberarmen noch stärker zu werden. Auch wenn meine Mutter sich immer größte Mühe gab, mir Privatsphäre zu lassen, war es doch eine ganz neue und nicht gerade positive Erfahrung, von der eigenen Mutter mit 16. Jahren noch geduscht zu werden. Deswegen wollte ich so viel wie möglich eigenständig sein. Der Mann räusperte sich ein bisschen, als er keine Antwort von mir erhielt und riss mich so aus meinen Gedanken. „Klar“, sagte ich und lächelte leicht, „Danke!“ Die zwei Möbelpacker nickten mir noch einmal zu und schlossen dann die Tür hinter sich. Nun hatte ich endlich mal Ruhe. Ich drehte mich einmal mit dem Rollstuhl um die eigene Achse und schaute mich um. Das Sofa stand schon mal, und auch der Schreibtisch war schon aufgebaut. Nun fehlte nur noch das Bett und meine Regale. Meine Mum hatte mir versprochen, dass mein Zimmer spätestens heute Abend fertig wäre. Das wäre auch praktisch, weil wo sollte ich sonst schlafen? Wobei, ich schlief eigentlich nur noch selten. Meistens lag ich die Nacht wach und schaute an meine Zimmerdecke, während ich mit meinem Ipod Musik hörte. Oder ich schaute mir Bilder von früher an. Morgens war ich dann meistens wie gerädert, aber konnte trotzdem am Abend wieder nicht einschlafen. Meine Mutter wusste nichts von meiner Schlaflosigkeit. Ich wollte sie nicht noch mehr beunruhigen, sie machte sich so schon genug Sorgen. Ich wollte mir gerade wieder Musik anstellen, als es an der Tür klopfte und Mrs. Smith, eine alte Freundin von meiner Mum ihren Kopf reinsteckte. Ich mochte sie nicht so, sie war mir zu überdreht und künstlich. „Ashley, da bist du ja“ Wo sollte ich sonst sein, dachte ich spöttisch. „Ist es ok, wenn du für uns in der Stadt Schwämme kaufst? Wir haben doch zu wenig, und die Regale sind hier alle so verstaubt“ Sie seufzte dramatisch und schaute mich bittend an. Ich schaute sie fassungslos an. Was? Wie sollte ich denn, im Rollstuhl sitzend, durch die gefährliche Stadt London? Was weiß ich, was für Typen hier rumlaufen? Früher, als ich mit meinen Mädels shoppen war, fand ich es schon manchmal gruselig. Und nun hatte ich keine Chance weg zu rennen oder mich zu verteidigen. Außerdem hatte ich überhaupt keinen Bock auf die Blicke der Leute. Schon der Gedanke daran… Ich konnte spüren, wie sich mein Magen verkrampfte und ich anfing zu schwitzen. „Muss ich?“ Meine Stimme hörte sich dünn und zitternd an, ich räusperte mich ein paar Mal, um entschlossener zu klingen. „Wissen Sie, mir geht es heute nicht so gut und ich..“ „Ashley“ Na toll, nun kam auch noch meine Mum herein. „Sie ist schon auf dem Weg“, zwitscherte ihr Mrs. Smith an, während ich sie ungläubig ansah. „Nein, Mrs. Smith, dass haben Sie falsch verstanden, ich…“ Schon wieder wurde ich unterbrochen. „Ich freue mich so, dass du dich endlich mal dazu aufraffst“. Die Augen meiner Mutter strahlen richtig. „Hier hast du Geld und denk daran, du kannst mich immer anrufen!“ Und so war mein Schicksal besiegelt. Ich würde heute, seit einem halben Jahr, mal wieder alleine in die Stadt gehen. Oder fahren, wie man es nimmt.                                          Mit zitternden Fingern drückte ich auf den Knopf, um ins Erdgeschoss zu gelangen. Ich fragte mich, wie ich später wieder nach oben kommen sollte, denn der Knopf für den 6. Stock war ziemlich hoch. Egal, sagte ich mir, denke nicht an später, Ashley. Denke an jetzt und versuche, erst einmal das zu schaffen. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als sich die Aufzugstüren öffneten und ich in die Lobby fuhr. Der Portier öffnete mir die Tür und schenkte mir ein aufmunteres Lächeln, als wüsste er, durch welche Hölle ich gleich gehen würde. Als sich die Türen hinter mir wieder schlossen, wusste ich, nun war ich alleine auf mich gestellt. Der Wind fuhr barsch durch meine langen Haare und ich fröstelte leicht. Als ich meinen Blick hob, fühlte ich mich als sähe ich London zum ersten Mal. Es ist die eine Sache, wenn man mit langen, selbstbewussten Schritten durch die Stadt eilt aber eine andere Sache, wenn man krampfhaft versucht, keine Leute umzufahren und dabei die Handtasche nicht zu verlieren. Ich blickte noch einmal hoch zu meinem Appartement und schließlich fuhr ich los, mit dem Strom der Menschenmasse.

Unconditionally ♥Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt