Saturday, 8.45 AM

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Am nächsten Morgen werde ich nicht etwa wie sonst von dem nervigen Klingeln meines Weckers aus dem Schlaf gerissen, sondern von den kräftigen Sonnenstrahlen über London. Da Sonnenschein hier in England wirklich recht selten ist, ist es für die Menschen wahrlich eine richtige Attraktion. Auch der Sommer ist meist eher bewölkt und regnerisch, bis auf drei oder vier heiße und schwüle Tage im August, woraufhin meistens Unwetter folgen.
Ich reibe mir schläfrig die Augen und muss ein paar mal Blinzeln, um richtig sehen zu können. Als ich mich in meinem Bett aufsetze, sehe ich mich in unserem Zimmer um.Überall liegen Kleidungsstücke und andere Dinge herum. Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, so ein Chaos hinterlassen zu haben. Ich seufze, als ich sehe wie tief und fest die restlichen Bewohner des Zimmers noch schlafen. Das Aufräumen muss ich dann wohl wirklich auf später verschieben. Ich gähne und greife noch ziemlich schlaftrunken nach meinem Handy. Es ist gerade mal kurz vor neun und ich bin hellwach. Mal wieder typisch für mich. An Tagen, wo ich normalerweise etwas länger schlafen könnte, stehe ich noch früher auf als sonst und kriege kein Auge mehr zu, bei dem Versuch, weiterzuschlafen. Ich habe keine neuen Nachrichten bekommen, auch typisch für mich. Nach einem kurzen Blick auf mein Handy, lege ich es wieder weg und überlege, wie ich mir die Zeit vertreiben könnte. Weder Alice, noch Maddison oder Amy, ist wach. Das bedeutet, dass ich keinen allzu großen Krach veranstalten darf. Ich würde nur allzu gerne das gigantische Chaos in unserem Zimmer beseitigen, allerdings will ich auch keine meiner Freundinnen dadurch wach machen. Für Aufräumen bleibt später noch genug Zeit. Die Sonnenstrahlen scheinen mir immer noch provokativ ins Gesicht und ich stöhne genervt. Leise stehe ich auf und begebe mich an das Fenster, um die dunklen Vorhänge zuzuziehen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich irgendetwas Wichtiges vergessen habe. Als ich wieder zu meinem Bett zurück schleichen will, entdecke ich einen weiteren Haufen schmutziger Wäsche unter Amys Bett. Ich kann nicht anders und hocke mich vor das Bett, mit der noch schlafenden Amy, und krame langsam die einzelnen Hosen und T. Shirts hervor. Ich gebe mein Bestes, keine Geräusche von mir zu geben, als ich aufstehe und vorsichtig auf den Wäschekorb zugehen, um es dort hineinzuwerfen. Als ich zufrieden auf mein Bett zugehe, höre ich, wie sich Amy langsam und noch ziemlich verschlafen in ihrem Bett rührt. Verflucht! Als ich mich umdrehe, ernte ich ein müdes, aber dennoch breites Grinsen von ihr. Ich erwiedere das Lächeln kurz, beachte sie aber nicht weiter. Hoffentlich schläft sie wieder ein... Ich lege mich zurück in mein Bett und schlage Sturmhöhe auf. Maddison und Alice scheinen noch zu schlafen, Amy jedoch plötzlich hellwach. Was ist plötzlich los mit ihr, normalerweise ist sie doch nie so früh schon wach? Ich kann mich nicht auf die Lektüre konzentrieren und schlage es nach mehreren Anlaufversuchen wieder zu. Für Brontës Worte benötigt man einfach viel Geduld und jede Menge Konzentration. Ich mustere Amy. Sie hat bereits zu ihrem Handy gegriffen und scheint gerade alle möglichen Nachrichten zu lesen, die sie bekommen hat. Ist wirklich alles okay mit ihr? Vielleicht ist sie krank?
"Wieso schon so früh wach?", frage ich sie schließlich und ernte nur ein Stirnrunzeln ihrerseits. "Ich glaube, du bist noch ziemlich verschlafen, oder?" schmunzelt sie. Was meint sie denn? Sie scheint meine inneren Grübeleien zu bemerken. "Are you ready for your first Boarding School Party?" Sie zwinkert mir amüsiert zu und mein Herz rutscht mir beinahe in die Hose, als mir klar wird, was ich vergessen habe. Ich werde heute zum ersten Mal auf eine richtige Party gehen. Heute werde ich Hunter kennenlernen.
Es ist kurz vor zehn als auch Maddison und Alice wach werden. Nachdem wir uns alle im Badezimmer ein wenig zurecht gemacht hatten, begeben wir uns in den riesigen Speisesaal, um wenigstens noch eine Kleinigkeit zu frühstücken. Während die anderen sich alle eine ordentliche Portion Pancakes mit Ahornsirup auf den Teller schaufeln, stochere ich nur auf meinem wesentlich weniger befüllten Teller herum. Ich bekomme kaum einen Bissen herunter, wenn ich an heute Abend denke. Ich sollte vielleicht wirklich mehr essen, aber ich kann einfach nicht, die Nervosität nimmt mal wieder überhand.
"Du machst dir zu viele Gedanken, Raven.",sagt Maddison besorgt. Auch wenn wir nicht kommunizieren, hat sie immer eine Ahnung, was gerade in meinem Kopf vorgeht. Sie kennt mich einfach zu gut. Ich seufze verzweifelt. "Ich glaube, so eine Party ist doch nichts für mich." Ich spiele mit dem Gedanken, doch hier im Internat zu bleiben. Es wird sicherlich nicht die letzte Chance sein, auf so eine Party zu gehen. Amy verdreht bloß die Augen. "Jetzt zieh ja nicht den Schwanz ein, Raven!", droht sie. "Mach dich doch einfach mal ein wenig locker und denk nicht immer so viel nach. Du tust dir selbst damit keinen Gefallen." Eigentlich hat sie ja recht. Ich sollte nicht alles kaputt analysieren. Ich sollte mich eigentlich darauf konzentrieren, dass ich ja heute Abend vielleicht auch mal Spaß haben werde. Vielleicht lerne ich ein paar nette Leute kennen, mit denen man sich gut unterhalten kann. Mehr erwarte ich eigentlich gar nicht. "Okay.", seufze ich, "Ich versuche, nicht mehr so viel darüber nachzudenken bis heute Abend." Amy und Maddison strahlen mich zufrieden an. Die Zeit nach dem Frühstück vergeht regelrecht in Zeitlupe. Jede Sekunde kommt mir quälend langsam vor und es fühlt sich so an, als würde die Zeit gar nicht richtig vergehen.
Als ich auf die Uhr schaue, ist es gerade mal zwei Uhr nachmittags. Alice ist bereits nach dem Frühstück gegangen und wird wohl erst morgen wieder von ihrem Freund Ben nachhause gebracht. Ich kann ihn nicht sonderlich leiden. Vielleicht mag es daran liegen, dass er hochnäsig und arrogant aussieht. Ich urteile eigentlich nicht über das Aussehen von Menschen, vor allem, wenn ich diese gar nicht kenne. Allerdings sieht man es ihm sofort an, in welcher Liga er spielt. Er zählt zu den Jungs, die Ralph-Lauren Poloshirts und viel zu große Sonnenbrillen tragen, nicht zu vergessen die riesige Uhr an seinem Handgelenk. Natürlich fährt er schon mit süßen 18 Jahren seinen ersten Sportwagen, von Papa geschenkt bekommen natürlich. Alice scheint Ben jedoch wirklich zu lieben, auch wenn er aussieht wie ein viel zu reiches Arschloch.
Maddison liegt auf ihrem Bett und surft auf ihrem Tablet. Ihr geliebtes Ipad ist wirklich alles für sie und es kommt mir so vor, als könnte sie ohne dieses gar nicht mehr richtig leben. Neben ihren unzähligen Büchern natürlich. Amy steht verzweifelt vor ihrem Kleiderschrank und ihr steht die bloße Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. "Was ist denn bei dir los?" frage ich, meine Spur Besorgnis in meiner Stimme ist nicht zu überhören. "Ich finde einfach nichts Passendes für eine Party!" ruft sie wehmütig aus. "Ich kann nicht mitkommen, ich habe nichts zum Anziehen!" Ich grinse. Ich bin immer wieder darüber erstaunt, wie pessimistisch sie doch manchmal sein kann. Obwohl, unterbricht mich meine innere Stimme, eigentlich bist du ja hier die größte Pessimistin weit und breit...
Manchmal wünsche ich mir, mein Gewissen würde einfach mal die Klappe halten. Ich tapse auf ihren Kleiderschrank zu und streiche ihr enthusiastisch über den Kopf. "Wir finden schon etwas für dich." mache ich ihr Hoffnung. Sie grinst mich mit strahlenden Augen an. Ich stehe orientierungslos vor ihrem überfüllten Kleiderschrank. Das könnte schwerer werden, als ich dachte. Da Amy als Party-Gängerin bekannt ist, müsste sie doch eigentlich genaustens wissen, was man zu so einem Anlass tragen sollte. Also, gute Frage. Was zieht man zu einer Party an? Es sollte auf jeden Fall etwas Bequemes sein, in dem man sich wohlfühlt. Mein Blick fällt auf eine figurbetonte Röhrenjeans, die ich ihr zusammen mit einem schwarzen, paillettenbesetzten Crop-top in die Hand drücke. "Bequem, aber trotzdem irgendwie schick." begründe ich meine Entscheidung. Ihre Augen starhlen mit den Pailletten des Oberteiles um die Wette. "Du bist so ein Schatz, Raven!" kichert sie zufrieden und fällt mir um den Hals. Ich erwidere die stürmige kurz und komme plötzlich ins Grübeln. Ich habe mir schon viele Gedanken dazu gemacht, wie der Abend heute verlaufen wird, aber ich habe noch keinen Gedanken an mein Outfit verschwendet. Ich bekomme Panik. "Was soll ich heute überhaupt anziehen?" bringe ich verunsichert hervor. Amy runzelt die Stirn und scheint nachzudenken. Doch schließlich lächelt sie. Plötzlich geht sie auf meinen wesentlich kleineren Kleiderschrank zu und greift gezielt nach meinem weißen, knielangen Kleid. Ich habe es zu meinem 15. Geburtstag vor ein paar Wochen von meiner Mutter bekommen. Es ist neu und ich habe es noch nie getragen. "Höchste Zeit, den schicken Fummel hier mal der Öffentlichkeit zu präsentieren." sagt sie und schwänkt den Kleiderbügel samt Kleid vor meiner Nase herum. Ich grinse und verschränke die Arme. Das Kleid ist zwar weiß und wirkt ziemlich unschuldig, allerdings hat es auch einen bestimmten Reiz, was wohl an der Kürze des Kleides liegt. "Wahrscheinlich hast du recht," kichere ich, "auch wenn es vielleicht ein wenig zu kurz ist." Der zweite Satz klingt eher fragend. "Ach Quatsch... Außerdem kannst du ja ein mal ein bisschen mehr Haut zeigen als sonst..." sagt sie und zwinkert überzeugend. Gut, wenigstens hat sich das Problem jetzt erledigt und ich kann mir meine unnötigen Grübeleien sparen. "Du wirst toll aussehen, vertrau mir." ergänzt sie, als sie meinen besorgten Blick bemerkt. Das wird schon irgendwie, ich kriege das hin.
Es ist etwa halb sieben, als Maddison, Amy und ich perfekt gestylt vor dem großen, breiten Spiegel in unserem Zimmer stehen. Von dem Chaos von heute morgen in diesem Raum, ist jetzt keine Spur mehr, worüber ich auch froh bin. So stolpern wir heute Nacht, wenn wir von der Feier zurück kommen, wenigstens nicht über Wäscheberge oder Pfandflaschen. Ein nerviger Gedanke in meinem Hinterkopf also weniger. Wir betrachten uns im Spiegel und ich bin erstaunt, was Amy alles mit ihren Make-Up Fähigkeiten anstellen kann. Mit dem schwarzen Eyeliner auf meiner Wasserlinie und dem leicht glitzernden Highlighter sehe ich aus, wie ein komplett anderer Mensch und es verleiht mir ein wenig Selbstbewusstsein, das ich heute definitiv brauchen werde. Das weiße Kleid sitzt wie angegossen an meinem zierlichen und schmalen Körper und mein dunkelblondes Haar ist zu einem Dutt zusammengebunden. Einzelne, dünne Strähnen hängen mir im Gesicht und sind leicht gelockt. Ich bin wirklich erstaunt, wie gut ich eigentlich aussehen kann, wenn ich wollte. Auch Maddison und Amy sehen beide umwerfend aus. Amy trägt die von mir ausgewählten Kleidungsstücke und Maddison eine einfache, schwarze Leggins mit einem karrierten Hemd. Ich glaube, wir sahen noch nie so blendend aus. "Wow." bringen wir drei gleichzeitig heraus, der überraschende Unterton nicht zu überhören. Wir lächeln uns im Spiegelbild stumm.
Wir legen alle unser restliches Taschengeld zusammen, um uns ein Taxi zu rufen.
"Wo genau findet die Feier eigentlich statt?" frage ich neugierig. "London, Hemmingsroad 33. Das Haus ist gigantisch und liegt in einem der bekanntesten Reichenvierteln der Stadt." verkündet Amy grinsend. Sie kann Ihre Begeisterung kaum zurückhalten. Okay, die Feier findet also noch in London statt, dann kann es ja gar nicht so weit sein. Wieder komme ich ins Grübeln. "Und wie lange bleiben wir dort eigentlich?" erkundige ich mich. "Mach dir darüber keine Sorgen, Raven. Wir werden schon wieder rechtzeitig hier sein, spätestens gegen Mitternacht." versichert mir Maddison. Mit Mitternacht kann ich noch leben, solange die beiden bis zu dem Zeitpunkt nicht schon betrunken in irgendeiner Ecke rumliegen. Maddison wirkt zwar ziemlich reif und belehrend, allerdings kann sie auch, vor allem was Alkohol angeht, ziemlich leichtsinnig sein. Ich werde auf keinen Fall trinken, das steht fest. Weder Bier, noch Vodka, noch sonst irgendwas werde ich annehmen. Ich werde höflich ablehnen. Auch Spiele wie Wahrheit oder Pflicht gelten für mich als Tabu und ich habe wirklich keine Lust, da hineingezogen zu werden, in irgendeine Gruppe hormongesteuerter Teenager unter Alkoholeinfluss. Ich werde mich nett unterhalten, mit ein paar normalen Leuten, mehr nicht. Hoffe ich zumindest.
Als genau um viertel nach sieben das Taxi um die Ecke biegt, um uns abzuholen, werde ich immer nervöser. Ich bezweifle, dass meine Nervosität während der Fahrt in irgendeiner Form abnimmt. Amy sitzt neben dem Taxifahrer, der sich sichtlich genervt ihre komplette Lebensgeschichte anhören muss. Ich schmunzele innerlich. Nachdem ich und Maddison auf der hinteren Sitzbank aus Leder Platz genommen hatten, zücke ich mein Handy und öffne sinnlose Apps, wie Facebook, nur um mich von meiner eigenen Aufregung abzulenken. Ich knabbere nervös auf meiner Lippe herum, als der Fahrer bekannt gibt, dass wir gleich in die Hemmingsroad abbiegen werden und somit nach etwa zehnminütiger Fahrt fast am Ziel angelangt sind. Er gibt sich nichtmal ansatzweise Mühe, seine Erleichterung hinter diesem Satz zu verbergen. Er ist wohl echt abgefuckt. Was ein dämlicher Wichser, wir hätten auch einfach den Underground nutzen können. Mein Herz rast. Hemmingsroad 29...30...31...32...33.
Mein Herz macht einen gewaltigen Satz. Wir sind angekommen. Hemmingsroad 33.
Das wirklich gigantische Haus, man könnte sagen Villa, befindet sich auf einem Grundstück mit der, ungelogen, dreifachen Fläche. Der Rasen ist saftig grün und sieht sehr gepflegt aus. Scheinbar kommt hier öfters mal der Gärtner vorbei. Auf dem Grundstück befinden sich einige Bäume, sowie eine große Gartenhütte. Es ist wirklich groß. Alles. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus, bis sich vor mir plötzlich die Tür des Fahrers öffnet und ich aus meinen Gedanken gerissen werde. Das Ausmaß dieses Hauses ist gigantisch. Auf dem Gelände befinden sich bereits einige feierwütige Personen. Geschätzt sind sie alle in unserem Alter. An der Straße parken Autos, die teurer als mein gesamtes Leben sind. Große, schwarze SUVs. Ob sie wohl auch dem Besitzer dieses Palastes gehören? Wie kann man so viel Geld besitzen?
Ich bleibe vorerst sitzen, bin überwältigt von diesem Anblick. Maddison und Amy jedoch scheinen glücklich und entspannt zu sein. "Komm runter, Raven. Du wirst hier nicht aufgefressen." witzelt Amy. Es war eine schlechte Idee, hier her zukommen. Ich hätte zuhause bleiben sollen. Mein Gewissen und meine Gedanken drehen komplett durch. Das sind hier zu viele Menschen. Das ist hier alles zu groß. Das ist hier zu laut und zu überfüllt. Ich will hier weg. Das sind meine Gedanken, als ich dieses Haus und das Anwesen näher betrachte. Wir steigen schließlich aus und keine halbe Minute später ist das beschissene Taxi auch schon verschwunden. Wir hätten wirklich U-Bahn fahren sollen.
Wir stehen am Anfang des Weges, der zur edlen Haustür führt. Der Weg ist lang.
Richtig, das ist er. Wir stehen noch am Anfang der Geschichte über mein neues, aufregendes Leben. Hätte ich doch nur damals schon gespürt, wie hart, lang und schmerzhaft dieser Weg wirklich ist. Doch ich beginne zu laufen, setze einen Fuß vor den anderen. Und ich schaue nicht mehr zurück. Nein, nie mehr.

Poison boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt