Kapitel 1: Erster Kontakt-47

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Mit vorsichtigen Schritten stelzte das Reh auf den kleinen Gebirgsbach zu, um seinen Durst zu stillen. Es spitzte die Ohren, konnte jedoch nichts hören und wiegte sich deshalb erstmal in Sicherheit. Man hörte den Schnee unter den kleinen Hufen knirschen, ansonsten herrschte völlige Stille, nicht einmal der Wind wehte. Natürlich war das Reh nicht alleine, denn plötzlich hörte man ein leises Surren gefolgt von einem Pfeil, der das Tier mit chirurgischer Präzision in die Lunge traf. Seine Augen weiteten sich für einen kurzen Moment, es stieß einen bellenden Ruf aus, doch dann fiel es in den weichen Schnee, wo sich ihm einige Augenblicke später eine geduckte Gestalt in einem weißen Tarnanzug mit einem Messer in der rechten Hand und einem Bogen über der Schulter näherte. Sie zog dem Tier die Waffe über den Hals, um dessen Leben zu beenden und horchte danach, ob der Ruf ein Raubtier angelockt hat.

Weil nichts zu hören war, begann die Gestalt, die niemand anderes als 47 war, das Reh zu zerlegen und die genießbaren Stücke in einen Sack zu stopfen, um sich mit diesem auf der Schulter auf den Weg in ihre Blockhütte zu machen. Diese hatte der Agent eigenhändig gebaut, nachdem er von Ungarn nach Rumänien gewandert war, um seine Spuren zu verwischen. Sein Instinkt sagte ihm jedoch, dass es eine schlechte Idee gewesen war, in Osteuropa unterzutauchen und Diana und Victoria zu verlassen. Seine rationale Seite verfluchte ihn dafür, dass er ihnen verraten hatte, wo er hingeht, da sie diese Informationen unter Folter hätten preisgeben können. Dies war jedoch ein Risiko, das 47 bereit war einzugehen, da er nun bereits zweiundsiebzig Jahre alt war und seine verbleibenden Lebenszeit noch einmal vollends genießen wollte, fernab von jeglichen Erinnerungen an seine Vergangenheit. Unter Genuss hätte es ein gewöhnlicher Mensch verstanden, die Welt zu bereisen und alten, fast vergessenen Träumen nachzugehen. Doch der ehemalige Agent hatte schon die ganze Welt bereist und da er von Kindesbeinen an nichts anderes außer Töten kannte, hatte er beschlossen, sich mit einem riesigen Stapel von Büchern an einem lebensfeindlichen Ort ungestört niederzulassen. Seine irrationale Seite hingegen riet ihm, zu Diana und Victoria zurückzukehren, um als eine Art Familie zu leben. Doch einen solchen Gedanken verwarf 47 stets kopfschüttelnd, da ihm Jahre des Mordens und der Isolation jegliche Gefühlsneigungen abgewöhnt hatten. Bei dem Blockhaus angekommen, brachte er das Fleisch in eine Vorratskammer und rieb sich danach die vor Erschöpfung brennende Schulter.

„Ich bin einfach ein alter Mann geworden. Andere meines Alters passen auf ihre Enkel auf oder fahren auf Urlaub, während ich hier in der Kälte sitze und allein versuche, zu überleben.", dachte er sich.

Trotz dieser Beschwerden war 47 immer noch stärker als die meisten Fünfzigjährigen, was seiner Genetik und seinem Krafttraining sowie seinen Tai Chi-Übungen zu verdanken war. Da er nun wieder für ein paar Tage versorgt war, begab sich der ehemalige Agent in sein spartanisch eingerichtetes Wohnzimmer, wo er außerdem schlief und kochte. Die Blockhütte hatte neben der Vorratskammer nur dieses eine Zimmer, doch für 47 war das bereits ein Luxus. Er stellte den Bogen gegen die Wand, behielt sein Messer jedoch in der Lederscheide an seiner Hüfte, setzte sich im Schneidersitz auf sein Bett, welches aus einer gepolsterten Binsenmatte sowie Decke und Polster bestand, und holte aus einem der unzähligen Bücherstapel „Hamlet" hervor. Plötzlich fuhr er hoch, sprang auf und duckte sich unter einem Fensterrahmen. Von draußen waren Schritte zu hören, welche sich der Hütte näherten und schließlich stehen blieben.

„Wir haben hier eine Art Blockhaus gefunden. Sehen uns das jetzt genauer an.", ertönte eine durch eine Sturmhaube gedämpfte Stimme.

47s Gehirn lief auf Hochtouren und wägte alle Optionen für seine nächsten Schritte ab. Sollte der Eindringling durch die Tür kommen, so würde er direkten Blick auf das Bett, die Bücher sowie ihn selbst haben. Es gab auch keine Ecken, die ihm hätten Sichtschutz bieten können und so war seine einzige Möglichkeit die Flucht in die Vorratskammer, die auch von außen zugänglich war und in das Wohnzimmer führte. So schlich er geduckt in jenen Raum, ließ die Tür jedoch einen Spalt breit offen und lauschte. Tatsächlich betrat jemand die Hütte, machte kurz Pause und ließ offenbar den Blick über die Töpfe, Bücher und die Binsenmatte gleiten, bevor er langsam den Raum betrat.

„Ich gebe dir Feuerschutz!", ertönte plötzlich eine weitere Stimme, sodass 47 seine Pläne noch einmal überdenken müsste. Sollte er hervorschnellen und den ersten Eindringling ausschalten, würde ihn dessen Gefährte sofort erschießen. Deshalb klopfte er ganz leise gegen die Tür und begab sich dann unbemerkt durch den zweiten Eingang nach draußen. Dort spähte 47 durch das Schlüsselloch und beobachtete den Mann, der nun die Vorratskammer betrat. Es war ein Soldat in einem Tarnanzug, bewaffnet mit einem G36, der gerade seinem Kameraden zurief: „Hier ist frisches Fleisch, vermutlich von einem Reh. Irgendjemand war hier, vielleicht ist er es sogar! Wir müssen auf jeden Fall Bericht erstatten."

Danach drehte sich der Soldat um und machte Anstalten, das Haus zu verlassen. Jetzt war es an der Zeit zu handeln. 47 hob einen Ast auf, warf diesen in das Waldstück vor ihm, sodass der Soldat am Haupteingang abgelenkt war und schnellte im nächsten Augenblick wieder durch die Tür zur Vorratskammer, wo dessen Kamerad mit vor Schreck geweiteten Augen herumwirbelte, doch es war bereits zu spät. Der ehemalige Auftragskiller packte das Handgelenk seines Opfers, welches den Vordergriff der Waffe hielt, sodass diese keine Gefahr mehr darstellte, dann rammte er ihm sein Messer in den Hals. Mit einem seltsam gurgelnden Laut spritzte Blut aus der Kehle des Soldaten, bevor er zu Boden fiel. 47 hörte im selben Moment die knirschenden Schritte seines anderen Feindes, der versuchte, ihn durch die Tür zur Vorratskammer von hinten zu überraschen, doch dieser reagierte blitzschnell und warf sein Messer, als dieser im Türrahmen erschien. Der Soldat wurde an der Schulter getroffen, ließ sein Gewehr vor Schmerz und Schreck fallen, war aber noch nicht tot. Blitzschnell trat ihm 47 auf die Brust, schlug ihm gegen den Kehlkopf, packte dann seinen Kopf und rammte ihm das Knie gegen die Nase. Dies geschah innerhalb von wenigen Augenblicken und der Gebirgsjäger taumelte benommen zurück. Das verschaffte seinem Gegner jedoch die Zeit, sein Messer aus dessen Schultern zu ziehen und ihm die Kehle durchzuschneiden, sodass nun auch sein zweiter Gegner ausgeschaltet war. Fluchend betrachtete er die Leiche. Seine schlimmste Befürchtung war Realität geworden und nun war offensichtlich eine ganze Militäreinheit hinter ihm her.

Als 47 den zweiten Soldaten in seine Hütte gezerrt und den Schnee mit dem Fuß herumgewirbelt hatte, damit das Blut nicht mehr zu sehen war, begab er sich in sein Wohnzimmer und brach einige der Bodendielen auf. Darunter befand sich eine kleine Grube, in der eine Box, ein Koffer sowie eine kugelsichere Weste lagen. Dieses Geheimversteck hatte er für einen solchen Moment vorbereitet, sowie einen Plan ausgeheckt, um sicher zu entkommen. Aus der Box entnahm er zwei Colt M1911 Pistolen, von ihm „Silverballer" genannt, samt mehreren Magazinen sowie ein zweischneidiges Kampfmesser mit Ledergriff. Dies waren seine steten Wegbegleiter, die einzigen Konstanten in seinem so einsamen Leben. Er zog bei jeder der Feuerwaffen den Schlitten zurück, steckte das Magazin hinein und drückte diesen wieder nach vorne, sodass jeweils eine Kugel in der Kammer war. Mit dieser Prozedur kehrten viele Erinnerungen an alte Aufträge zurück und mit einer gewissen Euphorie legte er die Weste an. Lächelnd dachte er sich: „Sollen sie nur kommen, ich werde ihnen zeigen, dass sie sich mit dem Falschen angelegt haben!"

Hitman-Der Tod von Agent 47Where stories live. Discover now