1

230 6 0
                                    

Mittlerweile war der Bunker vielleicht wirklich so etwas wie ein Zuhause geworden. Es war jetzt nicht unbedingt Schloss Versailles, aber Dean fühlte sich – vermutlich das allererste Mal in seinem Leben – Zuhause. Und es war auf jeden Fall um einiges besser als die schäbigen Motelzimmer, in welchen Sam und Dean ansonsten immer gewohnt hatten. Dean lag in seinem Bett, immer noch ziemlich geschwächt von seinem Kampf mit Kain. Er hatte es geschafft, er hatte ihn tatsächlich umgebracht. Doch er konnte nicht leugnen, dass das etwas in ihm ausgelöst, etwas in ihm verändert hatte. Bislang konnte er es noch relativ gut unterdrücken, sodass Sam und Cas bisher nichts davon gemerkt hatten, doch er spürte, wie dieser innere Drang, Menschen zu töten, immer mehr in ihm hochkroch. Er wehrte es ab – oder versuchte es zumindest -, er tat es mit jeder Faser seines Körpers, mit jedem einzelnen Muskel, mit jeder einzelnen Hautzelle. Doch es kostete ihm schier unendliche Mengen an Kraft, sich dem Drang nicht einfach hinzugeben und dagegen anzukämpfen. Er konnte an nichts anderes denken, auch wenn er versuchte, sich mit Fällen und Recherche abzulenken. Es ging ihm auch nicht aus dem Kopf, was Kain zu ihm gesagt hatte ... würde er früher oder später tatsächlich Sammy töten? Und Cas? Nein. Das war absolut unmöglich. Ganz egal, wieviel Macht das Mal über ihn bekommen würde, das würde er niemals zulassen. Vorher tötete er sich lieber selbst.


Plötzlich wurde Dean aus seinen Gedanken gerissen, als er hörte, dass Sammy nach ihm rief. Er setzte sich auf und massierte sich die Schläfen. Sein Kopf brummte, als hätte er drei Tage voller Alkoholexzesse hinter sich.
„Was ist los, Sammy? Alles klar?", er wusste, dass sein kleiner Bruder gerade einen Fall untersucht hatte. Er hörte, dass Sam näher kam. Als er schließlich in Deans Zimmer angelangt war, lehnte er sich an den Türstock und sah Dean an.
„Es ist wegen.... Cas. Er hat angerufen", sagte Sam.
Dean quittierte das mit einem Kopfnicken. Das hörte sich gut an, meistens rief Cas an, wenn er irgendetwas Neues herausgefunden hatte.
„Okay. Na... das ist doch gut, oder nicht?", Dean stand nun aus seinem Bett auf und klopfte Sam auf die Schulter, „hat er was gefunden?"
Sam blickte zu Boden und in diesem Moment wusste Dean, dass etwas nicht stimmte. Er konnte deutlich spüren, wie sein Herz schneller zu pochen begann.
„Verdammt, Sammy, was ist mit ihm?"
Sam holte tief Luft. Es lag ein wenig Verzweiflung in seinen Augen.
„Ich... ich war gerade an dem Fall dran, den wir besprochen hatten, als Cas mich plötzlich anrief. Er redete sehr undeutlich und ich konnte nicht alles verstehen, also fuhr ich zu ihm. Und..."
„Was, und? Verdammt, red' schon weiter, Sammy!", polterte Dean.
Sam seufzte schwer. „Er wurde verwundet. Ich weiß nicht von wem oder wovon. Er kann sich nicht heilen, seine Gnade ist schon wieder zu schwach. Er muss unbedingt seine eigene Gnade zurückbekommen, sonst...."


Sam musste nicht weiterreden. Dean wusste, was passierte, wenn Cas seine Gnade nicht bald zurückbekam. Die Gnade eines anderen Engels funktionierte nur vorübergehend. Dean fühlte sich, als hätte er tausend Schläge in die Magengrube bekommen. Er wollte sich auf der Stelle übergeben. Den Gedanken, Cas zu verlieren, konnte er einfach nicht ertragen. Er konnte es schon kaum ertragen, dass er verwundet war und es ihm schlecht ging. Er setzte sich auf den Rand seines Bettes und ließ seinen Kopf in seine Hände sinken.


„Wo ist er jetzt?", fragte Dean nach einem Moment.
„Hallo, Dean."
Sofort blickte Dean auf. Er sah Cas an und sofort fiel ihm sein blutüberströmter Trenchcoat auf. Er hielt sich eine Hand über seinen Bauch, Blut floss darüber.
Dean stürzte unverzüglich auf ihn zu und stützte ihn. Er ließ sein Gewicht ein wenig auf Deans Schultern fallen. Dean setzte ihn auf sein Bett, das Herz pochte ihm bis zum Anschlag. Es zerriss ihm das Herz, Cas so sehen zu müssen.
„Cas", flüsterte er und man konnte den Schmerz in seiner Stimme hören, „was... was ist passiert?"
Die Augen geweitet vor Verzweiflung sah er Cas an. Dieser schien jeden Moment ohnmächtig zu werden. Offenbar hatte er bereits viel Blut verloren ...
Dean nahm Cas' Kopf in seine Hände und gab ihm eine leichte Ohrfeige.
„H-Hey! Cas! Bleib bei mir, alles klar? Cas?!"
Cas öffnete die Augen. Ein kleines Lächeln kam über seine Lippen, als er Dean erblickte.
„Sammy, verdammt!", rief Dean, „warum stehst du hier noch herum? Bring mir etwas, das wir auf seine Wunde drücken können!"
Sam nickte und lief aus dem Zimmer. Irgendwie mussten sie ihm helfen können ...
„Ich freue mich, dich zu sehen, Dean", abermals lächelte Cas, doch man konnte in seinen Augen sehen, dass er unglaubliche Schmerzen hatte.
„Wer hat dir das angetan?", fragte Dean mit Zorn in der Stimme. Cas sah nun herüber zu Sam, der mittlerweile zurückgekommen war und Dean ein Tuch in die Hand gab, welches er auf Cas' Bauch drückte, um die Blutung ein wenig zu stillen.


Einmal mehr hatte Dean das Gefühl, vollkommen hilflos zu sein und als wäre alles seine Schuld. Hätte er doch bloß niemals zugelassen, dass der Engel in sein Leben kam ... alle um ihn herum waren dazu verdammt, zu sterben. Doch Dean würde das nicht zulassen. Nicht dieses Mal. Ganz egal, was es kostete.
„Sam und ich ... ehrlich gesagt, haben wir dich belogen, Dean. Wir wollten mit Metatron reden und ihn fragen, wie wir das Mal von deinem Körper wegbekommen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es so endet ... Engel haben mich angegriffen, sie dachten, dass wir Metatron etwas antun wollten", Cas röchelte, „er hat auch immer noch meine Gnade, nur ... ich werde sie nicht mehr zurückbekommen."
Dean runzelte die Stirn und sah Sammy vorwurfsvoll an. Warum hatte er ihm nichts gesagt? Er hätte helfen können. Vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen.
„Ich werde es aus diesem verdammten Arschloch herausprügeln, das schwöre ich", Dean ballte seine Hand zu einer Faust. „Ich hole deine Gnade zurück, Cas. Ich komm' nicht eher zurück, bis ich sie habe", er sah ihn an und merkte, wie schwach Cas war. Er hatte zwar nie eine zartrosa, gesunde Hautfarbe, wie es bei Menschen üblich ist, doch nun war sein Gesicht schon fast bleich. Es ging gar nicht vorrangig um die Wunde, die er hatte. Die Blutung konnten Sam und Dean stoppen, doch sie hatte Cas noch sehr viel stärker geschwächt, sodass er vermutlich nur noch wenige Tage von seiner Gnade zehren konnte.
„Wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen", sagte Sam voller Schuldgefühle.



Cas versuchte, aus dem Bett aufzustehen, torkelte aber so sehr, dass er sofort wieder auf das Bett zurückfiel.
„Dean", sagte er und starrte ihn an, „du kannst meine Gnade nicht zurückholen. Ich werde sie nie wieder zurückbekommen."
Dean schüttelte ungläubig den Kopf. Warum sagte er sowas? Es war Dean egal, zu welchem Preis er die Gnade zurückbekam. Für ihn zählte lediglich, sie zurückzubekommen und Cas das Leben zu retten.
Er drehte sich zu Sam um. „Nein", erwiderte er und neigte den Kopf zur Seite, sodass er Castiel sehen konnte, „soweit ich es beurteilen kann, ist seine Verletzung nicht besonders tief. Das kannst du verarzten. Ich vermute, die Engel werden nicht so einfach Ruhe geben. In einem Krankenhaus finden sie ihn, das können sie im Bunker nicht. Er bleibt hier bei uns, bis er seine Gnade wieder hat."
„Aber Dean, du kannst nicht....", doch Dean unterbrach ihn, bevor Sam zu Ende sprechen konnte.
„Ich lasse nicht zu, dass ihm noch etwas passiert, ist das klar?"
Dean konnte seine Gefühle kaum unter Kontrolle bringen. Er war voller Wut, Trauer und Schmerz. Wut auf Sam, weil er Castiel in diese Lage gebracht hatte und das, obwohl Dean klar und deutlich gesagt hatte, dass er nicht mehr wollte, dass irgendjemand nach einer Heilung für das Mal suchte, denn es gab keine. Und nun war die Situation noch verheerender geworden, so wie es einfach immer passierte.


Doch das, was er am Intensivsten fühlte, war Angst. Angst, Cas zu verlieren und ihn nie wieder zu sehen. Dean wusste, dass er vollkommen ausflippen würde, sollte Cas sterben. Er konnte sich nicht vorstellen, was dann mit ihm passieren, - was für ein Mensch er werden würde. Die schiere Angst davor, den Menschen zu verlieren, der ihm – abgesehen von Sam – am Meisten bedeutete, ließ ihn allein bei dem Gedanken daran beinahe durchdrehen.
Sam war mittlerweile dabei, die Wunden von Castiel zu versorgen. Dabei stöhnte er immer wieder vor Schmerzen auf, aber wenigstens konnte die Blutung gestoppt werden. Seine extrem heiße Körpertemperatur und die Tatsache, dass er seine Kleidung vollkommen durchgeschwitzt hatte, trugen allerdings nicht unbedingt dazu bei, dass Dean sich bereits Hoffnung auf Besserung machte. Dean half ihm, aus seinen Sachen herauszukommen und gab ihm stattdessen ein T-Shirt samt Jeans von ihm.


„Du solltest dich hinlegen, Cas", Dean sah ihm tief in die Augen und konnte sehen, wie unglaublich schlecht es ihm ging. Es schien fast so, als hing ein grauer Schleier über seinen sonst so blau leuchtenden Augen.
Cas nickte. „Ich danke dir, Dean."
Dean schüttelte den Kopf, was ihm bedeuten sollte, dass nichts hiervon etwas war, wofür er sich bedanken musste. Er folgte ihm zurück in Deans Zimmer und setzte sich auf die Bettkante, als Cas sich hineingelegt hatte.
Er nickte ihm zu. „Gut... du wirst dich bald ein wenig besser fühlen", er versuchte, ihn anzulächeln, um Cas zu zeigen, dass er optimistisch war, doch das schlug eher fehl, als dass es funktionierte.
„Ich werde jetzt gehen, okay? Ruh dich aus. Ach... eins noch, Cas. Wo ist Metatron jetzt?"
Bestürzt blickte Cas ihn an.
„Er ist tot, Dean. Metatron ist tot."



How can I ever get over you?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt