Kapitel 3

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Ich nahm mein Gepäck in die Hand und stieg langsam die alte Holztreppe hinauf, die höchst warscheinlich in den zweiten Stock führte. Die Stufen knarzten und ächzten als wollten sie geradewegs unter mir durchbrechen. Oben zweigte sich der Flur nach links und rechts und mir fiel auf, dass meine Großmutter mir garnicht gesagt hatte welches Zimmer meines war. Vielleicht durfte ich es mir aussuchen? Ich zuckte mit den Schultern und entschied mich einfach nach links zu gehen und mir ein Zimmer nach dem Anderen anzuschauen. Irgendwann würde mir schon eins gefallen. Die Rollen meines Koffers ratterten unnatürlich laut über die Dielen und ich wartete nur darauf das meine Großmutter nach oben kam und wissen wollte warum ich ihr Haus auseinander nahm. Der erste Raum war kein Schlafzimmer sondern ein überraschend modernes Bad. Nicht das ich einen Eimer als Toilette erwartet hätte, aber ganz sicher keine Regendusche. Ich nahm mir vor sie gleich nachdem ich mein eignes kleines Reich ausgesucht hatte das erste Mal zu benutzen. Das nächste Zimmer war voller Kartons und ein paar Farbeimer standen auf dem Boden verstreut. Im Raum daneben stand ein altes, schwarzes Klavier und am Fenster ein roter Sessel. Das war wohl Oma's Musikzimmer. Als ich mich umdrehte um das Zimmer wieder zu verlassen wurde mir mit einem Mal eiskalt, als würde der Wind durch das Haus pfeifen. Hastig schloss ich die Tür hinter mir und machte mich auf zur Nächsten. Dahinter befand sich ein großer Raum mit einem gigantischen Bett in der Mitte. Hier drinnen roch es nach frischer Farbe und es war wohl erst vor kurzem gestrichen worden. An der Wand stand ein großer, weißer Kleiderschrank und vor dem großen Fenster eine Staffelei und ein etwas altmodisch aussehender Schreibtisch. Hatte meine Großmutter vielleicht gewusst, dass ich gerne zeichnete oder war es nur Zufall. Vielleicht war es aber auch ihr Zimmer. Ich ging auf den Schrank zu und öffnete ihn. Bis auf ein paar Kleiderhaken war er völlig leer. Vom Fenster aus konnte ich auf die Bäume sehen, in denen ich die Vögel vorhin singen gehört hatte. Ich öffnete es und schon wehten die angenehmen Klänge zu mir herein. Entschlossen legte ich meinen Koffer auf das Bett und warf mich darauf. Es war angenehm weich und ich vergrub meine Nase in der Bettwäsche. Sie roch frisch gewaschen und ein wenig nach Rosen. Das hier würde zu hundert Prozent mein Zimmer werden.

Als ich eine Weile später unter der Dusche stand und das Wasser angenehm warm meinen Rücken hinunter lief, spürte ich wie sich meine Muskeln nach so langer Zeit endlich wieder richtig entspannen konnten. Hier war keine Aufseherin, keine Danielle, keine Barb und ... keine Maddie. Ich vermisste die kleine Frohnatur jetzt schon unglaublich, auch wenn wir immernoch in der selben Schule waren. Neben ihr fiel es nicht auf, dass ich nicht sprechen konnte. Maddie hatte immer für uns beide geredet und jetzt war es so seltsam still ohne sie. Ich drehte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Mein Blick fiel auf ein weißes Handtuch das über dem Waschbecken hing. Wo kam das denn auf einmal her? Ich konnte mich nicht erinnern es dort hingelegt zu haben. Vielleicht war meine Oma ja herein gekommen und ich hatte sie wegen dem Rauschen der Dusche nicht gehört. Ich zuckte mit den Schultern und wickelte mich in den weichen Stoff, dann schlüpfte ich in meine Hausschuhe, die ich aus dem Waisenhaus mitgehen hatte lassen und ging zurück in mein Zimmer. Neben der Unterwäsche die ich mir heraus gelegt hatte, lag ein schwarzer Bademantel auf meinem Bett. Ich trocknete meine Haare ab und nahm den Mantel in die Hand. Auch wenn meine Großmutter keine Erfahrung mit Kindern zu haben schien, gab sie sich wenigstens Mühe. Ich zog meine Unterwäsche an und schob meine Arme durch die schwarzen Ärmel. Wieder hüllte mich dieser herbe Geruch ein, den ich bereits unten im Flur gerochen hatte. Der Duft erinnerte mich an irgendetwas, aber mir wollte nicht einfallen an was. Ich bürstete meine Haare und beschloss dann nach unten zu gehen. Vielleicht brauchte meine Oma ja Hilfe bei etwas, ... was auch immer sie gerade tat. Ich verließ mein Zimmer und hatte bereits meinen Fuß auf die oberste Stufe gesetzt, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Es war wie eine leise Melodie, die durch den Flur zu mir herüber schwebte. Mein Blick wanderte zu der Tür, die sich nur wenige Meter von mir im rechten Flügel befand. Sie sah nicht außergewöhnlich aus, im Gegenteil. Sie hatte die selbe dunkelbraune Farbe wie jede der Anderen hier oben. Ich schaute nach unten um mich zu vergewissern, dass meine Großmutter mich nicht sehen konnte. Dann ging ich langsam auf die Tür zu. Das Geräusch wurde lauter und jetzt konnte ich hören, dass jemand summte. Es war eine schöne und ruhige, aber auch traurig klingende Melodie. Es klang ein wenig wie ein Schlaflied. Wenige Zentimeter vor dem verbotenen Zimmer blieb ich stehen. Ich wollte wissen, wer da so schön summte. Doch als ich meine Hand auf den Griff legte und ihn herunter drückte, verstummte das Lied augenblicklich. Es war abgeschlossen und mit einem Mal packte mich eine kalte Welle der Angst. So schnell ich konnte lief ich zurück zu Treppe und hechtete die Stufen hinunter. Mit einem letzten Blick nach oben ging ich auf den hellen Schein am Ende der Tür zu und wäre fast in meine Oma hineingelaufen. "Kayla, ich wollte dich gerade holen kommen", sagte sie und lächelte. Doch es verblasste als sie mir in die Augen schaute. "Ist alles in Ordnung?", fragte sie und ich nickte zögerlich. Die alte Dame zog eine Augenbraue nach oben und schien weiter mein Gesicht zu studieren. Ich spürte wie ich mich verkrampfte und befahl mir selbst nicht weg zu sehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, wandte sich meine Großmutter von mir ab und ging auf den Tisch zu. Auf diesem standen bereits zwei Schüsseln von denen ein herrlicher Duft zu mir hinüber wehte. "Ich hoffe du magst Hühnchen und Gemüse", meine Oma setzte sich an das Kopfende und wies auf den Stuhl neben sich. Ich nickte und nahm Platz. "Greif ruhig zu", sagte sie und ich nahm mir zögerlich ein Stück Fleisch und einen Läufel Karotten und Erbsen. "Keine Sorge Kayla, du kannst dir ruhig etwas mehr nehmen. Ich kann mir vorstelle, dass das was du im Heim bekommen hast nicht besonders genießbar war", meinte sie. Ich schmunzelte und nahm mir noch ein wenig. "Guten Appetit", sagte meine Oma und ich nickte ihr lächelnd zu. Das Essen schmeckte himmlisch. Es zerging mir regelrecht auf der Zunge und ich wollte nie wieder etwas anderes. Meine Großmutter versuchte so gut es ging mit mir zu reden. Und ich war erstaunt als sie auch ein bisschen von meiner Zeichensprache verstehen konnte. Meine Oma erzählte mir von dem Tag als sie mich das erste Mal gesehen hatte. Es war an meinem sechsten Geburtstag gewesen, als sie uns in dem kleinen gelben Haus besuchte. Ich war auf ihrem Schoß gesessen, wärend sie mir eine Geschichte vorgelesen hatte. Es war Rotkäppchen gewesen und ich hatte danach unbedingt auch so eine rote Kappe haben wollen. Schließlich stand sie auf und ging zu einer kleinen Kommode, die neben der Tür stand. Sie zog die oberste Schublade auf und holte eine kleine Mütze hervor. Sie leuchtete in einem strahlenden Rot und ich spürte wie mein Hals enger wurde. "Ich bin nicht dazugekommen es dir zu geben, als du klein warst", murmelte meine Großmutter, als ich mit den Fingern über den Stoff strich. Ich war gerührt, dass sie es so lange aufbewahrt hatte. Ihre knochigen Finger verschwanden in einer Tasche in ihrem Kleid und sie holte in kleines Foto hervor. Darauf waren eine Frau und ein Mann zu sehen. Der Mann stand hinter der Frau und hatte seine Arme um sie geschlungen. "Das sind deine Eltern an dem Tag an dem sie sich verlobten", die Stimme meiner Großmutter zitterte und ich wusste nicht ob ich sie in den Arm nehmen sollte. Doch sie atmete tief durch und hatte sich sofort wieder gefasst. Meine Oma war wirklich eine sehr vornehme Dame, denn sie schien sich keine große Gefühlsregung zu erlauben. Ich schaute mir die beiden Menschen auf dem Bild genauer an. Die grünen Augen hatte ich eindeutig von meinem Vater geerbt, aber die roten Haare und die blasse Haut waren die meiner Mutter. "Du siehst aus wie sie", flüsterte meine Oma und ich wusste was sie meinte. Ich war dieser Frau wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen hätte sie meine Zwillingsschwester sein können. Deswegen war meine Großmutter also ein wenig distanziert mir gegenüber. Sie sah in mir ihre verstorbene Tochter, die ihr Leben verloren hatte, weil ein betrunkener Autofahrer zu schnell über die Kreuzung gerast war. Ich schluckte und schob das Bild von mir weg. Es schmerzte, diese beiden Personen anzusehen, zu wissen das sie meine Eltern waren, aber keinen Bezug zu ihnen zu finden. Ich erinnerte mich nicht an ihre Stimme oder ihren Geruch und selbst die Gesichter waren fremd für mich. Ich zeigte meiner Großmutter, dass ich müde war und nach oben gehen wollte. Sie nickte und schenkte mir noch ein letztes Lächeln. "Gute Nacht, Kayla", ihre Stimme klang traurig und ich bekam ein wenig Schuldgefühle. Doch ich wollte jetzt lieber nur alleine sein. Heute war viel zu viel auf einmal passiert und das musste ich zuerst einmal verarbeiten. Oben zwang ich mich nicht zum verbotenen Raum zu sehen und ging zu meinem Zimmer. In diesem Moment fühlte ich ein seltsames Kribbeln im Nacken, als würde mich jemand ansehen. Ich drehte mich um, doch im Flur war niemand. Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich zog hastig die Tür zu. Ich band meine Haare hoch, schlüpfte aus meinen Hausschuhen, knipste das Licht aus und kuschelte mich schnell unter die Decke. Draußen in den Bäumen war kein Vogel mehr zu hören, nur das leise Rauschen der Blätter. Dann ertönte wieder dieses wundervolle Lied. Langsam und sanft schwebten die Töne zu mir hinüber. Ich schloss die Augen und ließ mich in den Schlaf singen. Das die Melodie näher kam, bis sie schließlich genau neben meinem Bett ertönte, bekam ich nicht mehr mit. Auch nicht als sich das Fenster leise von selbst schloss und meine Decke bis über meine Schultern gezogen wurde.

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