Das Bildnis der unbekannten Schönen

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Seit einigen  Jahren sahen die Einwohner von Bagdad einen jungen Mann an ihrem Stadttor sitzen, der eine Augenbinde trug und mit einer Holzschale Geld für sich erbettelte. Die Kinder der Umgebung liebten ihn, denn er wusste die erstaunlichsten Geschichten zu berichten und erzählte sie immer mit einer gewissen Wehmut im Herzen. Eines Tages zog ein großer Festumzug durch das Stadttor. Reichgeschmückte Elefanten trugen wertvolle Schätze zum Palast des Sultans. Vier Posaunenbläser gingen voran und kündigten die Ankunft der Prinzessin Nour an. Sie war die einzige Tochter des hiesigen Herrschers und kehrte nun nach einer langen Reise zum Hof ihres Vaters zurück. Die Prinzessin wurde von zwanzig Dienern in einer großen Senfte getragen, die mit kostbaren seidenen Vorhängen verhüllt war. 

Als sie an dem blinden Bettler vorüberzog, bekam Nour Mitleid mit dem Schicksal des jungen Mannes und ließ die Senfte für einen Moment anhalten. 

,,Wer bist du und was tust du hier, Fremder?" 

,,Man nennt mich Abdennour, den Blinden. Aber in Wahrheit bin ich Nael, der Sohn der Königin Esmahan!"

 ,,Komm', und erzähle mir deine Geschichte, Nael, Sohn der Esmahan!"

Der junge Mann verließ seinen Platz an dem Torbogen und folgte der jungen und schönen Prinzessin in den Palast. Er dachte, er könne sich mit seiner Geschichte die Langeweile der Königstochter vertreiben und sich damit etwas Geld verdienen. Als sie im Palast waren, wies die Prinzessin ihre Diener an ihn zu waschen und neu anzukleiden. Dann kam der Abend und das Fest, das der Sultan zu Ehren seiner Tochter gegeben hatte, dauerte noch an. Doch Nour stahl sich heimlich von der reich beladenen Festtafel fort und ging in ihre Gemächer. Dort wartete der blinde Gast auf sie. Sie gebot ihm, näher zutreten und ihr nun seine Geschichte zu erzählen. 

,,So höre, erhabene Prinzessin. Einst war ich Prinz Nael und lebte am Hofe meiner Mutter, der dunklen Königin Esmahan. Eines Tages kam ein Krämer zu uns in den Palast. Er bot allerlei Waren feil, die meine Mutter und ich ihm schon oft abgekauft hatten. Beim Durchstöbern seiner Kleinodien und Gewürze, fand ich plötzlich ein kleines silbernes Medaillon. Ich klappte es auf und sah ein Bildnis eines wunderschönen Mädchens darin. Es sah so liebreizend und gütig aus, dass ich mich sofort in sie verliebt habe. Ich fragte den Händler, wer dieses Mädchen sei und der Alte machte ein ganz entsetztes Gesicht. 

,,Wisst ihr denn nicht, mein Prinz? Das ist die unglückliche Prinzessin, dessen Name man nicht aussprechen darf!" 

,,Warum darf man ihren Namen nicht aussprechen?"

fragte ich und der Händler erzählte mir, dass sie einst die schönste Königstochter weit und breit  gewesen sei. Bald suchte ihr Vater einen Bräutigam für sie. Und es kamen auch viele Bewerber und wollten sie heiraten. Unter ihnen war ein böser Zauberer, namens Cassmir, dessen Herz dunkel und leer war und keine guten Gefühle kannte. Dieser wollte die schöne Prinzessin zur Frau nehmen. Doch das Mädchen ahnte, dass sie für ihn nicht mehr als ein begehrter Schatz war, der seinen Wert schnell verliert, sobald man ihn besitzt. Sie lehnte seine Werbung ab und er verfluchte ihre Schönheit. ,,Wenn ich dich schon nicht besitzen darf, soll es auch kein anderer tun!" rief Cassmir und verwandelte die Königstochter in eine Schreckensgestalt mit hässlichen Klauen, einem Körper, der aus silbrigen Schuppen bestand und einem Schlangenhaupt mit rot glühenden Augen. Den Atem, den sie ausstieß, stank nach Pest und Schwefel und ihr Schrei war so furchterregend, dass alle davon rannten, die ihn hörten. Der Magiker verbannte sie auf eine einsame Insel und gab ihr den Namen Gorgona. Dann tat er noch einen Fluch: Wenn jemand ihren richtigen Namen ausspräche, würde er auf ähnliche Weise verflucht sein wie sie.  Aus Scharm verbarg sich die Prinzessin in einer Höhle, wo sie Cassmir jeden Tag aufsuchte und sie fragte, ob sie nun bereit wäre, ihn zu heiraten. Aber bis jetzt hat sie ihn immer wieder abgelehnt. 

,,Und es gibt Nichts, was sie erlösen könnte?" fragte ich den Krämer. 

,,Doch es gibt ein einziges Mittel, wogegen die Kräfte des Zauberers machtlos sind!"

,,Und das wäre?" 

,,Die Liebe, mein Prinz. Wenn du sie bedingungslos lieben könntest, so wie sie jetzt ist und drei Jahre mit ihr auf dieser Insel lebst, ohne dass dich Cassmir bemerken würde, dann wäre sein Bann gebrochen!'' 

,,Ich werde sie erlösen!" rief ich. 

Doch meine Mutter hegte Bedenken gegen mein Vorhaben und wollte mich davon abhalten. Doch ich sagte ihr, dass ich die Königtochter liebe und nicht anders könne. Da ließ mich meine Mutter schweren Herzens ziehen...

Gorgona - Aus Liebe erlöstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt