1. Ein Jahr Amerika

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(Flashback)
"Ich werde dich so vermissen."
Meine Mutter drückt mich fest an sich und ich verdrehe die Augen dabei. Ich bin, wenn es um Gefühle in der Öffentlichkeit zeigen geht, ein kalter Stein. Meine Welt, die ich mir in meinem Kopf zusammen gedacht habe, ist der einzige Ort, an dem ich sie zeige und aufbewahre und da bin ich ganz froh damit. Wäre ich so wie meine Mutter, dann könnte ich mich selbst kaum ertragen.
"Mama, ich bin nur ein Jahr weg." sage ich und drücke sie sanft von mir weg.
"Ein Jahr ist lange, Schatz." sagt sie mit zitternder Stimme und streicht mir immer wieder über mein langes, schwarzes Haar.
Ich sehe hin und her und hoffe, dass nicht allzu viele Menschen dieses Emotionstheater meiner Mutter mitbekommen.
"Ich bin weder aus der Welt, noch tot. Wir telefonieren oder skypen." sage ich leise und schnappe mir meine Taschen, die ich auf dem Boden abgestellt habe.
Meine Koffer sind schon lange im Flugzeug, nur ich komme dank meiner Mutter nicht da hin.
"Sie hat Recht. Außerdem machst du es so nicht besser." sagt mein Vater zu ihr und hält sie zurück, als ich zum Gehen ansetze.
Mit den Lippen forme ich ein wortloses 'Danke' und gehe durch den langen Gang, um zum Flugzeug zu gelangen.
Dadurch, dass fast alle Plätze besetzt sind, finde ich meinen schnell. Eine alte Frau sitzt am Fenster und sieht mich mit strengem Blick an, als ich sie und den freien Platz neben ihr betrachte.
"Möchtes du ans Fenster?" fragt sie.
Ich weiß nicht genau, ob ich jetzt mit 'Ja' antworten soll. Ihr strenger Blick heißt bestimmt nicht, dass sie die Nettigkeit in Person ist und mich dort hin lässt. Bestimmt kommt ein 'Dann hättest du dir einen Platz am Fenster kaufen sollen.' zurück. Damit rechne ich zumindest.
Schweigend packe ich meine Tasche nach oben. Nur meine kleine Tasche, in der mein kleines Notizbuch drin ist, bleibt bei mir.
Die Frau beobachtet mich dabei.
"Gibt die Jugend heutzutage einem keine Antwort mehr?" fragt die Frau grinsend.
Das Grinsen macht es nicht besser. Es macht mir eher noch mehr Angst.
"Ich würde schon lieber ans Fenster." gebe ich kleinlaut als Antwort.
"Dann setz dich." sagt sie und steht auf.
Sie kommt in den Gang und ich tausche mit ihr. Ein leises 'Danke' entwicht mir, wir uns setzen.
"Am Fenster wird mir immer so schlecht. Egal, ob Bus, Bahn oder Flugzeug." sagt sie lachend.
Die Falten um ihre Augen werden dabei tiefer und bei dem strahlen der blauen Augen, die ein wenig hinter den Lidern verstecken, wirkt sie nicht mehr so streng. Sie wirkt einfach wie eine alte Frau, die bestimmt schon viel gesehen hat und trotzdem lachen kann. Vielleicht schon zu viel und dabei hat sich das Strenge der Zeit in ihrem Gesicht ungwollt festgesetzt.
Ich lächel sie an, dann sehe ich aus dem Fenster.
Die typischen Ansagen dringen durch die Lautsprecher und die Stewardess gibt die Sichherheitshinweise bekannt. Viel bekomme ich davon nicht mit, denn ich sehe lieber nach draußen. 
Als wir abheben und in der Luft sind und sich mir ein Bild der absoluten Freiheit bietet, schaue ich weg. Der Anblick ist viel zu schön, als das ich ihn ertragen könnte. Dabei würde ich mich nur im endlosen philosophieren über Freiheit verlieren und das will ich nun wirklich nicht. Das habe ich schon zu oft.
Ich öffne meine Tasche, die ich auf dem Schoß habe und nehme mein Buch und einen Stift heraus. Die alte Frau sieht mir dabei zu, wie ich bemerke.
"Schreibst du Gedichte?" fragt sie.
Immer diese Neugierde mancher Menschen. Ein wenig nervt sie mich, aber meine ist selbst nicht besser. Neugierde lässt uns entdecken. Ohne sie würden wir vieles nicht kennen und erleben. Wir würden ohne sie, aber auch weniger Dummheiten begehen... Und nicht zu dem werden, was wir heute sind.
"Nein, ich versuche Gedanken zu schreiben. Oder Geschichten, die mich faszineiren." antworte ich und blätter darin herum.
Bald muss ich mir ein neues Buch anlegen, denn dieses ist schon so voll. Gerade noch drei Seiten habe ich. Für so viele Gedanken und Geschichten.
"Deine?"
"Die der anderen. Meine sind es nicht wert." sage ich und grinse unter mich.
Es klingt so traurig, doch es ist die Wahrheit. Die Geschichten und Gedanken der anderen waren für mich immer schwerer. Sie hatten mehr Inhalt, mehr Phantasie und mehr zu sagen. Meine redeten nur. Sie erzählten nichts Ganzes und nichts Halbes und so höre ich kaum auf sie. Selbst meine Geschichte ist langeweilig. Sie wird nur duch andere interessant. Die Interessantheit meines Lebens verdanke ich anderen.
"Na, na, was redest du denn da, Kleines. Deine sind bestimmt genauso viel wert, wie meine."
"Das glaube ich kaum. Sie haben doch bestimmt mehr erlebt, mehr gesehen." sage ich und sehe sie an.
Ein kurzes Lachen von ihr.
"Ja, aber das kommt mit dem Alter. Außerdem kommt es auf das Gesehene an. Was habe ich gesehen? Krieg, Wut, Zerstörung. Das bestimmte meine Kindheit und glaube mir, Kleine, ich würde die Geschichte, auch wenn sie noch so interessant ist, gerne vergessen. Für mich hat sie keinen wert. Schreckliches sollte keinen großen oder überhaupt keinen wert auf der Welt haben." sagt sie und wirkt dabei so nachdenklich, dass man den Schmerz, den sie in der Zeit gefühlt hat fast greifen kann.
"Ich habe Menschen verloren. Das Liebste kam nicht mehr aus dem Krieg. Oft war ich alleine und ich habe mir oft gewünscht, dass ich in einer anderen Zeit geboren worden wäre. Obwohl ich mir die Zukunft noch schlimmer als die damaliege Zeit vorgestellt habe."
Gebannt höre ich ihr zu. Im Hinterkopf habe ich schon alles in mein Buch geschrieben, was sie sagt.
"Gab es denn überhaupt nichts Schönes?"
"Oh doch. Es gab selbst in der Zeit Schönes. Zwischen dem Grau des Krieges und der Zerstörung in der man lebte, gab es Momente, da glaubte man an den Frieden. Das viel oft schwer, doch wenn man es konnte, dann genoss man es. Mein Mann war so ein Moment. Wir lernten uns kennen, da musste er am nächsten Tag schon wieder an die Front."
"Und er kam nicht mehr zurück?"
"Doch, er kam und wir heirateten sofort. Wir wollten keine Zeit verlieren, weil wir so wenig davon hatten. Außerdem war das in der Zeit alles so schnell. Heute wirkt es fast so, als hätten Menschen Massen an Zeit irgendwo verstaut. Sie lassen sie vertreichen und merken erst viel zu spät, dass sie sehr begrenzt ist. Vor allem die Zeit mir jemandem Besonderem."
Bei ihren Worte frage ich mich wieder einmal, warum so viele Geschichtesbücher gibt, die historische Fakten aufzählen, aber keine solche Geschichten erzählen. Ich finde diese Geschichten schöner und trauriger, als die Jahreszahlen und Namen der Führer, die sich für Götter hielten und vom Wahsinn zerfressen wurden.
"Ich langweilige dich doch nicht oder?" fragt die Frau.
"Nein, nein. Ich bin ehrlich gesagt fasziniert und..."
"Und du würdest meine Geschichte gerne ins Buch schreiben?" fragt sie lächelnd.
Ich erwider es und nicke.
"Ich habe nichts dagegen."
Schnell schreibe ich das, was ich in meinem Kopf habe auf und lausche ihr weiter gespannt.
"Mein Kleid war so schön weiß und für diese dunkle Zeit viel zu auffällig, aber ich liebte es. Wie den Mann, der auf mich wartete. Er stand dort und ich wusste, obwohl ich ihn nicht wirklich kannte, dass ich ihn nie verlieren möchte. Ich sah ihm an, dass er das war, was man sein Leben lang sucht. Als wir am Altar standen und uns ansahen, da sah ich in seine braunen Augen und ich sah meine Zukunft. Eine, die viel schöner war."
Während sie erzählt, bemerke ich, wie ihre Augen funkeln. Tränen steigen in ihre Augen, doch bevor sie über das Gesicht laufen und ihre eigene Geschichte erzählen können, wischt sie sie weg.
Sie erzählt und lacht und dabei achte ich besonders auf das Strahlen in ihren Augen und die Lachfalten, die sich, trotz der Trauer, die in der Geschichte liegt, oft zeigen.
Lachfalten sind gelebte Geschichte und machen das Original so wertvoll und wenn Menschen mir Tränen in den Augen, Geschichten von vor 70 Jahren erzählen, dann bin ich mir sicher, die Zeit heilt gar nichts.
"Liebe war damals schöner oder?" frage ich und sehe sie an.
Als antwort bekomme ich von ihr das ehrlichste Lächeln, das ich je gesehen habe.
"Liebe war das Schönste, was man zu dieser Zeit hatte. Sie gab einem Alles und deswegen hielt man so an ihr fest. Heute gibt es so viel Wichtigeres."
Den letzten Satz sagt sie mit so einem sarkastischen Unterton, dass selbst der schwerhörigste Mensch ihn hören würde.
"Liebe ist eine Geschichte, die sich erzählen will, meine Kleine. Darf sie es nicht, verliert die Seele die Worte und das Herz verstummt. Das durfte man in dieser Zeit nie vergessen. Man musste die Liebe erzählen lassen, sonst wurde man so kalt, wie diese schrecklichen Panzer und Waffen."
Mit einer Eile schreibe ich weiter, denn ich will alles aufschreiben und bloß nichts vergessen. Alles ist wichtig. Jedes Detail. Vor allem die Details. Würde ein Künstler eines von ihnen vergessen, wäre das Bild nicht komplett und es würde ein Teil der Schönheit fehlen. Und da ich oft von meiner liebsten Anni als Künstlerin von Geschichten anderer bezeichnet wurde, brauche ich die Details ebenso.
Die Frau erzählt und erzählt und ich habe schon Angst, dass die acht Stunden Flugzeit nicht reichen würden, aber sie endet genau dann, als wir landen.
Ein ganzes Leben in acht Stunden und 45 Minuten und das mit Schmerz und Liebe erzählt, die man selbst niemals so nachfühlen kann. 
Von ihrem Mann bis zu ihrem jetzigen Sein war alles dabei und ich klappe mein volles Buch zu und stecke es in die Tasche.
Mit meinem Handgepäck verlasse ich hinter ihr das Flugzeug und gehe zu dem Band, an dem mein restliches Gepäck gleich vobeikommen müsste.
Die Frau stellt sich neben mich und streckt mir ihre Hand hin.
"Es war schön, dass es noch Menschen gibt, die ein Ohr für jemanden haben. Zuhören ist eine Gabe, die in dieser Zeit kaum wer noch besitzt. Sie sollten auf sie aufpassen." sagt sie, als wir uns die Hand geben.
"Ich sah diese 'Gabe' bisher eher als eine Art Fluch."
"Weil man sich andere Geschichten aufbürdet, aber man seine selbst nicht so erzählen kann?" fragt sie.
Ich nicke.
Zuhörer können hören, aber mir dem sprechen klappt es nicht so.
"Ja, vielleicht hast du da gar nicht so unrecht. Vielleicht ist sie Segen und Fluch zugleich, aber vergiss niemals, dass du vielen damit helfen kannst."
Sie lässt meine Hand los und dreht sich um.
Bevor sie zu weit von mir entfernt ist, sieht sie noch einmal zu mir und ich ergreife diese Chance sie etwas zu fragen, dass mich schon die ganze Zeit im Flugzeug beschäftigt hat.
"Darf ich sie fragen, wen sie hier besuchen?"
"Meinen Mann." antwortet sie lächelnd.
"Dann sagen sie ihm einen schönen Gruß."
Auch wenn ich ihn niemals persönlich gesehen habe, habe ich das Gefühl ihr einen Gruß von mir für ihn mitzugeben. Sie hat so schön und lebhaft von ihm erzählt, dass ich fast glaube ihn zu kennen.
Einen kurzen Moment schaut sie nach oben und ihr Lächeln wird breiter.
"Er bedankt sich." sagt sie und geht.
Es dauert einen Moment, dann verstehe ich und es tut mir leid. 
Es tut mir leid, dass ich den Fehler machte und bei unserem Flug zuerst nach dem ersten Eindruck ging. Es tut mir leid, dass sie hier zu ihrem Mann geflogen ist und hier trotzdem alleine ist. Und es tut mir leid, dass ich ihre Geschichte niemals jemandem, trotz der gleichen Worte,  so erzählen kann, wie sie sie mir erzählt hat.

Wenn dir jemand nicht mehr aus dem Kopf geht, gehört er wohl genau dort hinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt