Müde und mit dem Kopf voller Gedanke schaffe ich mich, nach einem langen und lustigen Gespräch mit Anni ins Bett. Sie war auf dem selben Trip, wie Marie und meinte sofort, dass ich mir entweder Sebastian oder falls es ein anderer von der Jacketgeschichte sein sollte, schnappen soll.
Meine Augen fallen sofort zu, als ich mich ins Bett gekuschelt habe, doch der Schlaf bleibt fern. Immer wieder drehe ich mich von der einen Seite auf die andere und lande zum Schluss auf dem Rücken und starre in die Dunkelheit.
Dieser Schlaf, der immer nur Minuten anhält bringt mir nichts und lässt meine Müdigkeit überhaupt nicht verschwinden. Es verstärkt sie nur noch, aber lässt mich trotzdem nicht in den Tiefschlaf fallen. Es ist zum verrückt werden.
So unruhig habe ich wirklich noch nie geschlafen. Mich beschäftigen viel zu viele Sachen. Die Sache auf der Party, die Sache danach, der unbekannte Typ. Kompletter Schwachsinn, sich so einen Kopf über all das zu machen. Die Sache auf der Party kann ich nicht mehr ändern, als raus aus meinem Gedächtnis, die Sache danach war schön, die kann bleiben, aber ist keine Grund um sich den Kopf zu zerbrechen und der Unbekannte... Der kann meine Schlaf doch einfach begleiten, als mich ihm fern zu halten.
Mittlerweile zeigt der Wecker neben meinem Bett, dass es schon 5:30 Uhr ist.
Ja, Hirn, danke. 5:30 Uhr ist immer die perfekte Zeit, eine Großversammlung aller Gedanken und Sorgen einzuberufen. Gibt es wenigstens Kaffee? Wahrscheinlich nicht.
Ich richte mich auf und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Todesmüde stehe ich auf und gehe in die Küche. Dort nehme ich mir aus dem Kühlschrank eine Packung Orangensaft und nehme einen Schluck davon. Dabei lehne ich mich an die Anrichte und schaue aus dem Fenster gegenüber.
Der volle Mond leuchtet in die Küche und spendet so viel Licht, dass ich kein elektrisches brauche.
Als ich gerade noch einen Schluck nehme, klingelt es.
Verwirrt sehe ich auf die Uhr, die über der Tür hängt.
5:40 Uhr.
"Wer ist das denn?" frage ich mich selbst.
Ich stelle den Orangensaft zurück in den Kühlschrank und gehe zur Sprechanlage.
"Ja?"
"Monia?"
Verdutzt starre ich die Anlage an.
"Ja, wer ist da?" frage ich vorsichtig.
"Der Kerl ohne Jacket." antwortet er.
"Bekomm ich es wieder?" fragt er freundlich.
"Äh, klar, also natürlich." antworte ich und drücke auf den Knopf, um ihn unten reinzulassen.
Ich öffne meine Haustür und warte im Türrahmen.
Es dauert ein paar Minuten, bis er bei mir im dritten Stock angekommen ist.
Mit einem freundlichen und für diese Uhrzeit aufgewecktem 'Hey' begrüßt er mich.
Er sieht aus, als würde er noch weggehen, ich dagegen sehe aus, als würde ich schon seit ein paar Tagen nur vor dem Fernseher sitzen, Chips essen und den Herr Gott 'nen guten Mann sein lassen.
Peinlich. Und genau dieses 'Peinlich' bestimmt mein Leben ziemlich gut.
Jetzt, wo es heller ist, sind seine Augen noch schöner, als an dem Abend.
"Woher weißt du, wo ich wohne?"
"Der Typ von der Party... Chris, richtig?"
Ich nicke.
"Ich hab ihn nach dir gefragt und das du noch etwas von mir hast, also hat er mir deine Adresse gegeben. Darf ich?" fragt er und zeigt in meine Wohnung.
"Ja, komm rein." sage ich und gehe schon mal vor.
"Sorry, für die späte Störung." sagt er und schließt die Tür hinter sich.
Im Wohnzimmer setze ich mich auf die Couch und er setzt sich neben mich.
"Ach..." sage ich lächelnd und winke ab.
"Ich konnte eh nicht schlafen. Macht also überhaupt nichts."
"Möchtest du was trinken?" frage ich und bin schon bereit, sofort aufzuspringen, doch er schüttelt den Kopf.
"Ne, danke."
"Liegt's am Vollmond?" fragt er grinsend.
"Was?" fragt ich.
'Ob's am Vollmond liegt, habe ich gefragt." wiederholt er sich.
"Ach sooo, ne, ne. Keine Ahnung, was mein Kopf wieder für Probleme hat." sage ich lachend.
"Ich bring dir mal das Jacket, warte kurz." sage ich und stehe auf.
Schnell flitze ich ins Schlafzimmer und nehme das Jacket vom Bett. Etwas langsamer komme ich zurück ins Wohnzimmer und sehe, wie er in einem meiner Bücher liest.
"Wer braucht die Geschichten aus den Geschichtsbüchern der Schule, wenn man welche von Menschen haben kann, die einem das viel besser erzählen können?" sage ich und lehne mich mit dem Jacket im Arm an den Türrahmen.
"Wenn diese Menschen einem Geschichten erzählen können, die greifbarer, mitreißender und schöner sind?"
Er sieht vom Buch auf.
Grinsend gehe ich zu ihm und setze mich auf meinen Platz.
Ich schlage ein anderes Buch auf und suche die Geschichte von Joline. Der alte Dame, die ich damals im Flugzeug getroffen habe.
"Was habe ich gesehen? Krieg, Wut, Zerstörung..." beginne ich zu lesen.
Die komplette Geschichte lese ich vor und er hört zu. Kein einziges Mal unterbricht er mich oder zeigt mir, dass es ihn langweilt. Auch wenn ich es niemals so erzählen kann, wie sie es getan hat.
"Ich war trotz des Krieges glücklich. Es mag absurd klingen, aber Liebe lässt einen für die Grausamkeiten erblinden. Man sieht nur noch Glück und ist froh mit allem was kommt." ende ich.
Ich sehe von meinem Buch zu ihm, sein Blick liegt auf meinem Geschriebenen.
"Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll." sagt er.
"Brauchst nichts zu sagen. Man musst nicht immer sprechen."
"Darf ich?" fragt er dann und zeigt auf das Buch.
Ohne eine Antwort reiche ich es ihm und sofort beginnt er darin herumzublättern und zu lesen.
"Und das sind alles Geschichten, die du aufgeschnappt hast?"
"Ich habe gar nichts aufgeschnappt. Die habe ich erzählt bekommen, weil ich gefragt habe. Ich frage Menschen nach ihrer Geschichte, weil ich glaube, dass kein Mensch langweilig ist und jeder etwas zu erzählen hat."
"Außer du."
Mit großen Augen sehe ich ihn an. Woher will er das denn wissen?
"Wie kommst du darauf?"
"Über jeder Geschichte steht ein Name und nirgends ist deiner."
Grinsend sehe ich unter mich. Ich Idiot. Wie konnte ich das vergessen.
"Ich hab noch die drei Bücher." sage ich und zeige auf die Bücher, die auf dem Tisch liegen.
"Und das hier, aber darin ist bis jetzt nur eine einzige." sage ich und nehme das Neue vom Tisch.
"Und in einem von den drei vollen steht deine?"
"Nein." antworte ich und schüttel den Kopf.
"Aber falls du eine Geschichte hast, dann immer her damit. Ich höre gerne zu, auch bei Problemen." sage ich lächelnd.
Er klappt das Buch zu und reicht es mir.
"Also bist du eher eine Zuhörerin?"
"So haben mich schon ein paar genannt, ja. Ich kann das gut, nur..."
"Nur mit dem eigenen Erzählen klappt's nicht so?"
Schweigend nicke ich.
Sein Blick ruht auf mir und es fällt mir schwer, ihn zu erwidern.
"Du hörst dir Probleme und Geschichten anderer an, damit es ihnen besser geht. Du nimmst ihnen Last ab und schnürrst sie dir um, aber du kannst niemandem etwas abgeben. Das wäre für dich auch undenkbar, fast schon absurd, nicht wahr?"
Alles was er sagt stimmt und statt ihn dafür zu bewundern, bekomme ich etwas Angst vor ihm.
"Genau..." sage ich nur, dann herrscht ein Schweigen, das zumindest auf mir etwas schwer liegt.
Es ist so ein blödes Gefühl, wenn man reden möchte, aber einfach nicht weiß, was.
Die Stille wird von ihm zerrissen, der sich plötzlich auf Schenkel klopft und aufsteht.
"Ich muss dann mal wieder." sagt er und nimmt das Jacket von der Couch.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er nicht unbedingt muss, sondern eher gehen möchte. Naja, wer kann's ihm verübeln, schweigend neben jemandem wie mir zu sitzen ist ja auch unangenehm. Bei mir bleibt man nur, so lange man etwas erzählt, dann geht man entweder oder ich gehe.
"Ich bring dich noch zur Tür." sage ich mit leichter Enttäuschung, die ich aber ganz gut verstecken kann.
Ich hätte ihn noch gern länger hier gehabt, aber was sollte ich weiter schweigen? Mir wären doch bald auch die Themen, über die ich schweigen kann ausgegangen.
"Vielleicht sieht man sich ja mal wieder. Auf einer Party oder so." sagt er grinsend und zwinkert mir zu, als zum Fahrstuhl geht und sich, als er den Knopf drückt, damit er in unserem Stock hält, noch einmal zu mir wendet,
Schweigend sehe ich ihm zu, wie er im Fahrstuhl verschwindet, dann renne ich plötzlich hektisch zu ihm.
Mit der Hand wedel ich an der Lichtschranke herum, damit die Tür nicht schließt. Etwas verdutzt sieht er mich an.
"Möchtest du mitfahren?" fragt er grinsend.
"Ich wollte fragen, wie du überhaupt heißt. Du kennst meine Namen, aber ich kenne deinen nicht."
"Oh, ich heiße..."
Er kratzt sich am Hinterkopf und legt den Kopf schief.
"Nenn mich einfach Ben."
Als ich den Namen höre, bin ich noch enttäuschter. Irgendwie hatte ich gehofft, dass es dieser Sebastian ist.
"Oh, ok." sage ich und trete aus der Tür.
"Bis irgendwann mal." sagt er und die Tür schließt sich.
Barfuß tappse ich zurück in meine Wohnung.
Mittlerweile wird es schon hell und ich frage mich, ob Anni schon wach ist.
Ich fahre den Pc hoch und öffne Skype. Dann rufe ich sie an und gehe, bis sie noch nicht drangeht, in die Küche und mache mir einen Tee.
Mit dem heißen Früchtetee kehre ich zum Pc zurück, auf dem immer noch angezeigt wird, dass ich Anni versuche anzurufen, doch sie geht nicht ran.
Sie ist doch sonst immer schon ab sechs Uhr wach.
Ich lasse es noch ein wenig klingeln, dann lege ich auf.
Vosichtig trinke ich an dem Tee und sehe zu meinem Handy. Vielleicht habe ich ja die Adresse von diesem Ben. Mein Daumen scrollt die Namen, die ich mir dort notiert habe hoch und runter, aber kein Ben ist dabei. Dann muss es wohl einer von denen sein, die Marie nicht kennt. Aber er müsste ja dann auf der Gästeliste stehen oder nicht?
'Marie? Suchst du bitte auf der Liste nach einem Ben? Danke.' tippe ich als Whatsappnachricht ein und schicke sie weg, dann lege ich das Handy zur Seite und trinke weiter meinen Tee.
Durch ein kurzes Vibrieren zucke ich zusammen. Schreckhaft wie schon als Kind immer...
'Hey, sorry aber auf der Liste gibt es keinen Ben. Wieso?'
Verwirrt sehe ich die Nachricht an und sehe dann hin und her. Hab ich mich, als er seinen Namen gesagt hat, verhört? Wie sollte man sich denn bei 'Ben' verhören? Ich hab doch keinen Hörschaden.
'Weil der Typ, dessen Jacket ich hatte, eben bei mir war und er meinte, dass er Ben heißt.'
'Aaaaaaaaah und? Wie war's?'
Ich verdrehe die Augen und schüttel grinsend den Kopf. Immer noch Anni 2.0.
'Es war nichts besonderes...' tippe ich ein, aber schicke es noch nicht ab.
Es war schon irgendwie besonders, denn es gibt für mich keine Begegnung, die es nicht ist. Jede beeinflusst unsere Zukunft, dass wird uns vielleicht erst später bewusst, aber es ist so. Alles was wir erleben hat einen Einfluss auf unser Leben und manchmal sind es die kleinen und kurzen, die den größten von allen haben.
'...also schon irgendwie, aber das lässt sich nicht erklären. Gibt's auch keinen Benjamin oder so? Vielleicht ist es ja ein Spitzname.'
'Sorry, nein.' kommt nach ein paar MInuten zurück.
'Aber erzähl doch mal. Ich hab Zeit.'
Gerade, als ich zurückschreiben möchte, öffnet sich ein Fenster auf dem Desktop und das gewohnte Klingeln von Skype ertönt.
'Ich ruf dich an, ok?'
'Ok.'
Zuerst rufe ich Marie an und lege das Handy auf den Schreibtisch, dann nehme ich Anni bei Skype an.
"Also Anni, das ist Marie. Marie, das ist Anni." sage ich lachend.
Mit einem 'Hey' begrüßen sich die Beiden. Wir beginnen zu lachen, weil es einfach komplett becheuert ist, aber anders geht es nicht und ich habe keine Lust die Geschichte zweimal zu erzählen. Das habe ich bei meinen 'Geschichten', wenn ich sie mal irgendwie erzählen sollte, nie.
Nachdem ich ihnen erzählt habe, was in sich in meinem Wohnzimmer abgespielt hat, fangen Anni und Marie an zu diskutieren und ich bin abgemeldet.
Mit meinem Tee, der mittlerweile kalt ist und nicht mehr gerade gut schmeckt, sitze ich da und lauschen den beiden, bei ihren immer komisch werdenden Theorien.
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Wenn dir jemand nicht mehr aus dem Kopf geht, gehört er wohl genau dort hin
Hayran KurguKeiner von uns ist zufällig an dem Platz, wo er gerade steht, sitzt oder geht. Es könnte sein, dass wir an diesem Ort im nächsten Moment etwas Unvergessliches erleben, eine Person treffen, die uns beeinflusst oder nur etwas Kleines, zunächst Unschei...