Mit einer Tasse Kaffee, zerzaustem Dutt und müdem Blick sitze ich vor meinem Laptop und beobachte den Kreis, der immer und immer wieder rund läuft und mir zeigt, dass er das Laden der Verbindung nicht hinbekommt.
Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee und stehe auf. Gerade als ich mein Zimmer verlasse, um mir kurz in der Küche etwas zu essen zu holen, höre ich Anni's Stimme.
"Monia? Huhu!"
Schnell flitze ich zurück und laufe fast gegen den Türrahmen. Dass ich den noch heißen Kaffee nicht über meine Hand geschüttet habe, gleicht einem Wunder.
"Anni! Hey." begrüße ich sie strahlend und stelle meine Tasse auf dem Schreibtisch ab.
Ich setze mich und stütze meinen Kopf auf meine Hände.
"Na? Wie sieht's in Deutschland aus?"
"Grau." sagt Anni und sieht nach hinten aus dem Fenster.
"Es regnet seit Tagen. Seit Monaten. Deutschland vermisst dich, Monia." sagt sie und zieht dabei eine Schnute.
"Ha ha, ich liebe es so sehr, wenn du so dramatisierst, Anni." sage ich lachend.
"Das ist die Wahrheit. Guck raus." sagt sie und steht auf.
Für eine kurze Zeit wird der Bildschirm schwarz, da sie die Webcam mit dem Ärmel ihrer grauen Weste verdeckt, doch dann sehe ich, wie sie sie zum Fenster hinter ihr trägt.
"Sieh dir das an." sagt sie und zeigt mir die Aussicht aus ihrem Fenster.
Grau und Regen. Mehr sehe ich nicht.
"Ja gut, ich glaube dir. Aber Schätzchen, ich bin erst seit zwei Monaten hier und nicht seit Monaten..." sage ich und nehme einen weiteren Schluck von meinem Kaffee.
Anni geht mit der Cam wieder zurück und der Bildschirm wird wieder schwarz, als sie versucht sie wieder an dem Bildschirm zu befestigen.
"Und wie läuft es so in Amerika? Schon jemanden im Blick?"
"Anni, ich bin hier nicht, um nach Kerlen zu suchen." antworte ich lachend.
"Ach komm, für das Jahr kannst du dir da ruhig einen angeln. Für was bist du sonst dort hin geflogen, mmh?"
"Um Abstand zu bekommen. Ich hab meine 'Heimat' satt. Siehst doch gerade selbst, dass alles grau und grau ist. Die Menschen sind es sogar und hier lernt man neues kennen. Neu ist oft ganz gut."
"Und ein neuer Kerl auch."
Ich verdrehe die Augen, kann mir dabei ein Lächeln aber nicht verkneifen.
"Du bist doof."
Anni beginnt zu grinsen und sieht dann zur Seite.
"Ich will nicht mit!" ruft sie.
"Deine Mutter?" frage ich und lehne mich in meinen großen Lederstuhl zurück.
"Ja... Jedes Mal will sie, dass ich mitfahre, aber sie kann doch wohl selbst einkaufen gehen..." sagt sie und atmet genervt aus.
"Weil ich nicht will!" ruft sie dann.
"Du solltest ausziehen." sage ich und grinse.
"Gib mir Geld und ich mach das sofort. Wirklich."
Anni ist eine Person, der ich viel zu verdanken habe. Zu Beispiel, dass ich so bin, wie ich nun bin. Lockerer, als früher. Ich verkopfe mich nicht mehr so sehr und habe gelernt mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Früher habe ich sie lieber vor manchem verschlossen, doch sie ist ein Mensch, die in allem etwas positives sehen kann. Sie könnte einem die Oase in einer Wüste zeigen. Manchmal ist sie anstrengend und ihr Dramatisieren geht oft zu weit, aber ich sehe das nicht als schlecht an. Ich schätze das an ihr.
"Ich kann dir ein wenig Geld schicken, aber davon musst du ein Ticket kaufen und mich besuchen kommen." sage ich.
"Mein Gott, dann komm ich eben mit!" ruft sie und sieht genervt zu mir.
"Brauchst du nicht. Geld für 'n Ticket bekomm ich noch zusammen. Ich muss schluss machen, sonst steht sie gleich hier oben im Zimmer. Wir skypen morgen, ja?" sagt sie hektisch und hat schon ihre Hand an der Cam.
"Ja, lauf schnell, bevor sie noch einen Anfall bekommt. Bis morgen." sage ich grinsend.
"Bis morgen."
Und schon ist das Fenster schwarz.
Nach einem Monat Amerika habe ich mich hier an überhaupt nichts gewöhnt. New York ist mir zu groß, die Menschen, die ich gerne hier hätte fehlen mir und die Hektik hier macht mich verrückt. Jedes Mal, wenn ich nach draußen gehe, werde ich bestimmt an die zehn Mal angrempelt, weil ich nicht in den Strom passe, der durch die Straßen läuft. Oft meckern die Menschen dann, aber mich lässt das kalt. Ich bin doch erst dabei mich anzupassen und statt mich zu beleidigen sollten sie mir lieber mal helfen.
Auch heute wieder. Mit unscheinbaren Klamotten, Schwarze Weste, schwarzes Top, Jeans und schwarzen Chucks und einer kleinen Tasche, in der ein neues Buch ist, gehe ich nach draußen. Mein Dutt ist immer noch zerstört, aber hier kümmert sich eh niemand um andere. Alle scheinen einen Tunnelblick zu besitzen und ich finde das ein wenig gut, doch auch extrem schade. Man kümmert sich nicht sonderlich um andere, aber dabei verpasst man ihre Geschichten.
Das Mädchen, das gerade ihrer Mutter die Taube im Park zeigen möchte, währenddessen die Mutter den Bildschirm ihres Handys für wichtiger ansieht. Der Mann, der an mir vorbei joggt und schief irgendwelche Lieder aus den 80ern mitgröllt und dabei eine Mimik besitzt, die oscarreif wäre.
Man verpasst die kleinen Dinge, man verpasst das Große. Viel zu schade.
Mein Spaziergang findet auf einer Bank im Central Park eine Pause. Mein Blick streift so oft hin und her, weil ich Angst habe etwas zu verpassen. Schließlich bleibt er bei einem Pärchen hängen, die sich heftig streiten. Er zerrt sie am Arm, sie wehrt sich. Niemand hilft. Selbst ich nicht, weil ich das Ende der Geschichte erfahren möchte. Das Richtige und nicht das, in welches ich reingefuscht hätte. Dafür wären auch Helden da und keine 25-Jährige aus Deutschland.
Der Streit legt sich zwar etwas, doch trotzdem wird er gestört. Ein Mann kommt zu den beiden und scheint zu fragen, was hier überhaupt los ist. Die Frau winkt nur ab, dann geht sie. Ihr wohl jetzt Ex dreht sich ebenfalls um und verschwindet. So bleibt der Mann alleine und ich beobachte ihn.
Er hat die Geschichte gestört... Immer diese Helden...
Sein Blick sieht erst ihr, dann ihm nach. Dann geht er weiter.
Ich überlege, wem ich nach soll. Dem Opfer, dem Täter oder dem Helden. Am liebsten würde ich gerne alle Geschichten einfangen können, aber das geht eben nicht und so muss ich schnell entscheiden, welche Geschichte am wichtigsten ist.
Geschichten über und von Helden gibt es so viele, Geschichten über Opfer gibt es auch ein paar, genauso, wie von Tätern. Seufzend stehe ich auf und gehe den Weg, den die Frau gewählt hat. Ich hoffe, es war die richtige Entscheidung ihre zu wählen.
Es dauert nicht lange, bis ich sie auf einer Bank sitzend sehe. Sie telefoniert lautstark mit jemandem und regt sich wohl über ihren nun Ex auf.
"Immer sein Theater. Ich hätte ihn schon viel früher in den Wind schießen sollen."
Sie beginnt zu lachen, während ich mich neben sie auf die Bank setze und so tue, als ob ich in meinem Buch lesen würde.
"Wie wär's mit dem, der mich letztens schon angemacht hat? Chancen hätte ich, aber ich befürchte, dass es wieder so ein vollkommener Idiot ist, wie mein Ex. Ja, nein, ist ok. Wir sehen uns morgen? Bye."
Grinsend legt sie auf und sieht kurz zu mir.
"Männer sind echt das Letzte oder?"
Ich sehe von meinem Buch auf und sehe sie an.
"Wie bitte?" frage ich, obwohl ich ganz genau verstanden habe, was sie mich gefragt hat.
"Männer sind das Letzte. Und doch kann man nicht ohne sie." sagt sie vor sich hin grinsend.
"Sie denken immer, dass sie ach so schlau wären, aber dann stellt sich heraus, dass sie noch zu blöd sind, jemanden richtig und unauffällig zu betrügen." sagt sie und schnaubt.
"Deswegen der Streit eben?" frage ich.
"Haben sie den auch mitbekommen? Ach, wer hat den hier nicht mitbekommen. Er war schon immer so. Wenn ihm was nicht passte oder er wütend war, dann war er immer so laut, dass die Menschen, die drei Blöcke weiter wohnten, es noch mitbekamen."
"Worum ging es denn genau, wenn ich fragen darf?"
Die Frau sieht mich an, dann in mein Buch. Ich merke, wie sie liest.
"Was schreiben sie denn da?"
"Geschichten. Von echten Menschen." antworte ich.
"Arbeiten sie für die Zeitung und schreiben dort Kolumnen oder einfach so?"
"Ich höre Menschen gerne zu und helfe zu entlasten. Ich weiß, dass das komisch klingt, aber es ist interessant." sage ich lachend.
Ich weiß, dass ich für viele erst einmal wie eine Verrückte klinge, aber sie akzeptieren schnell und sehen auch schnell den Vorteil, den sie haben, wenn sie sich jemandem anvertrauen, der für sie fremd ist.
"Und das veröffentlichen sie?"
"Nein, das bleibt in meinen Büchern. Ich erzähle sie, wenn sich jemand dafür interessiert, aber es ist vollkommen anonym."
"Und die Namen darüber?" fragt sie grinsend, während sie wieder auf die offenen Seiten sieht.
"Wer sagt, dass diese Namen stimmen?" frage ich grinsend.
"Gute Antwort. Also, ich erzähle es ihnen, aber sie dürfen dann nicht zu Carter rennen, ok?"
Ich nicke.
Wie sollte ich denn auch? Ich kenne diesen Carter nur gerade eben von der kleinen Sequenz des Streites. Als ob ich ihn jetzt suchen gehen würde und ihm das erzählen würde. So eine Person bin ich bestimmt nicht. Ich möchte helfen und keinen Streit auslösen. Aber verständlich, dass Menschen vor so etwas Angst haben. Man weiß nie, welche Absichten Fremde haben könnten.
"Carter und ich waren jetzt drei Jahre zusammen und es lief alles wirklich gut. Zu gut, wie sich eben herausstellen sollte. Ich kam gestern nach einer langen Schicht nach Hause und wen fand ich in unserem Bett? Carter und das blonde Biest von nebenan. Ich war so unglaublich wütend, dass ich beide rausgeworfen habe. Ich konnte nicht mal weinen, so wütend war ich. Oh, ich könnte mich gerade wieder aufregen." sagt sie und ich merke auch an der Art, wie sie erzählt, dass sie am liebsten gleich zu ihm gehen würde und ihm eine klatschen würde.
"Er war heute morgen an der Tür und wollte reden. Ich ließ ihn nicht rein. Eine Stunde lang nervte er mich mit klingeln, klopfen und mit 'Chloe, es tut mir leid', welches immer und immer wieder durch die Tür drang. Das Ignorieren fiel zwar schwer, aber ich schaffte es. Dann bin ich zur Arbeit und als ich nach meiner Schicht wieder nach Hause wollte, lauerte er mir hier auf. Den Rest haben sie ja mitbekommen."
Ich notiere mir das Alles, obwohl ich etwas anderes erwartet hatte. Etwas Dramatischeres, als das. Nicht unbedingt etwas Spannenderes, denn alle Geschichten, von jedem sind spannend. Nicht für jeden, aber für mich. Ich lerne aus ihnen und verstehe vieles besser.
Durch die Geschichten, die ich schon gesammelt habe und den Menschen, die ich dadurch schon kennengelernt habe, merke ich sofort, dass sie nicht alles erzählt hat. Dass dort noch etwas ist, das sie nicht unbedingt sagen möchte, aber wichtig für das Runde der Geschichte ist.
"Möchten sie noch mehr erzählen? Zum Beispiel, warum ihnen das Ignorieren so schwer fiel?" frage ich, als ich mit dem Notieren fertig bin.
Zuerst schüttelt sie den Kopf, dann sieht sie mich an.
"Weil er mir leid tat."
"Aber er hat ihnen wehgetan. Er hat das Vertrauen zwischen ihnen verletzt."
Ich möchte mit diesen Aussage niemals verletzen, es ist eher eine Taktik, dass sich menschen öffnen und das oft ganz unbewusst. Man lockt sie und das nicht zu meinem Vorteil, dass ich etwas zum schreiben haben, sondern zu ihrem. Das sie sich manches wieder ins Gedächtnis rufen und verarbeiten.
"Das habe ich ja schon vorher."
Sie hält inne und ich sehe sie schweigend an.
"Er weiß es aber nicht." sagt sie nach einer kurzen Pause.
"Sie haben den gleichen Fehler begangen, wie er gestern, stimmt's?"
Chloe nickt.
"Es war auf einer Party und ich war so betrunken. Verstehen sie mich nicht falsch, natürlich ist das keine Ausrede für das, was ich getan habe, aber vielleicht eine kleine Entschuldigung? Das Alles tut mir auch leid, deswegen habe ich es Carter nie gesagt. Ich wollte ihn nicht mit einem Fehler von mir belasten."
"Lieber haben sie sich damit belastet und dann, als sie gesehen haben, dass er den gleichen Fehler gemacht hat, alles rausgelassen. Ihre Wut auf ihn und die Wut auf sich selbst, die sie, wegen ihrem Fehler damals, aufgestaut hatten."
"Genau."
Als sie das sagt, wirkt sie verwirrt. Vielleicht, weil sie gerade einer Fremden so etwas erzählt hat. Vielleicht, weil ich ihr helfen konnte, ohne sie überhaupt zu kennen. Vielleicht aber auch, weil sie dachte, dass sie niemand verstehen kann oder sie diese Last nie als großes Problem gesehen hat. Sie hatte es mitgeschleppt und irgendwann daran gewöhnt. Nun, wo es weg ist bzw. wo ich ihr beim Tragen helfe, merkt sie, wie schwer es doch die ganze Zeit über war.
"Danke." sagt sie, als ich das Buch zuklappe.
Ich lächel sie an.
"Bitte. Aber ich habe ihnen zu danken. Für ihre kleine Geschichte." sage ich und stehe auf und gehe.
Mit breitem Grinsen mache ich mich auf den Heimweg und freue mich, dass ich helfen konnte. Auch wenn ich mir selbst wohl nie helfen kann.
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Wenn dir jemand nicht mehr aus dem Kopf geht, gehört er wohl genau dort hin
FanfictionKeiner von uns ist zufällig an dem Platz, wo er gerade steht, sitzt oder geht. Es könnte sein, dass wir an diesem Ort im nächsten Moment etwas Unvergessliches erleben, eine Person treffen, die uns beeinflusst oder nur etwas Kleines, zunächst Unschei...