Natürlich war er nicht mehr da, als ich aufgewacht und natürlich hat er sein Versprechen, an dem Abend, an dem wir tanzten, nicht gehalten. Zu wenig Zeit. Zu viel zutun. Alles ok, für mich. So habe ich New York allein entdeckt und mir einfach vorgestellt, er würde mich dabei begleiten.
'Guten Morgen, Monia. Es tut mir leid, dass ich nicht da bin, wenn du aufwachst. Ich war länger da, als ich eigentlich konnte. Keine Ahnung, wann wir uns wieder sehen werden, aber ich verspreche dir, dass wir uns auf jeden Fall vor deiner Abreise sehen werden.' steht auf dem Zettel, den ich langsam und mit einem Lächeln auf den Lippen zurück in die Jackentasche stecke, während ich vom Empire State Building zum Meer sehe.
Ich bin gar nicht traurig darüber, dass er sein Versprechen nicht gehalten hat und jetzt nicht bei mir ist. Ich bin traurig, weil ich New York nicht so kennenlernen darf, wie jemand, der hier lebt. Ich bin kein Fan von diesem typischen Sightseeingzeug und wenn man ein Jahr irgendwo ist, dann würde ich das niemals als 'dort leben' bezeichnen. Für mich ist das eher eine flüchtige Situation, die nur in der Währung der Zeit ein Jahr beträgt. Für mich ist es eher fast wie ein Wimpernschlag, wenn ich an alles zurückdenke. Vor allem, wenn man kaum Zeit für den Ort hat, an dem man sich befinden und viel mehr an einem Geist hängt, der einem begegnet ist und sich im Kopf eingenisstet hat.
Der Himmel über dem Meer färbt sich in ein immer dunkler werdendes Orange, das einen die Kälte leicht vergessen lässt.
Meer.
Ich war schon länger nicht mehr dort und obwohl es so nah ist und ich es sehe, vermisse ich es.
Oft benutze ich Meer als Vergleich für bestimmt Menschen. Meiner Meinung nach, ist der Vergleich ziemlich gut, wenn nicht sogar perfekt. Bis jetzt ist mir kein besserer eingefallen. Es ist genauso unberechenbar, wie ein paar von ihnen und es ist auch genauso schön. Und auch die Sehnsucht ähnelt der, dich ich nach manchen Menschen habe.
Es gibt Menschen, die vor einem stehen und doch vermisst man sie. Das kann tausend Gründe haben. Vielleicht ist der Mensch einem fremd geworden und nur die Hülle ist noch dieselbe oder man möchte dem Menschen näher sein, als man es ist. Doch man weiß, dass man ihm nie so nah kommen wird.
Seufzend drehe ich mich um und stelle mich vor den Fahrstuhl, um die Aussichtplattform zu verlassen, da fällt mir ein Paar auf.
Hier sind gefühlt 20 Paare, doch keins ist mir so aufgefallen, wie dieses.
Es ist nichtmal ein besonderes Paar. Sie sind weder auffällig gekleidet, noch spielt sich eine Show ab, noch sonst etwas, was eigentlich die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nein, die Frau steht dort einfach, mit den Händen vor dem Gesicht und den Tränen, die ihr über die Wange laufen. Der Mann nimmt sie lächelnd in den Arm und versucht sie zu beruhigen.
Ob er ihr einen Heiratsantrag gemacht hat? Ob sie sich einfach schon ewig nicht mehr gesehen haben?
Man fragt sich automatisch diese Dinge, doch die Personen der Szene fragen? Nein, das macht so gut wie niemand. Jedoch wäre ich nicht Monia, wenn ich es nicht tun würde. Einerseits, weil ich gerne Menschen erzählen höre, vor allem, wenn es um einen schönen Grund geht und andererseits aus Neugier meinerseits.
Langsam fängt sich die Frau wieder und sie kommen gemeinsam zu mir. Gemeinsam warten wir auf den Fahrstuhl, der nach wenigen Sekunden da ist. Ein paar Menschen steigen aus und wir als einzige ein.
Der Mann legt den Arm um ihre Schultern und sie leht den Kopf auf seine.
"Es geht mich nichts an, das weiß ich, aber darf ich den Grund für ihre Freude erfahren?" frage ich freundlich und lächel die Beiden an.
Diese schauen mich erst verdutzt an, dann sehen sie sich an.
"Wieso interessiert sie das?" fragt die Frau freundlich, aber sehr skeptisch.
"Freude hat meistens einen Grund. Genauso wie Wut, Trauer, Hass und so weiter. Mich interessieren diese Gründe und ich finde, dass, wenn jemanden ein Grund sogar vor Freude weinen lässt, dann muss er wirklich schön und erzählenswert sein oder nicht?" antworte ich ihr.
"Natürlich ist es kein 'Muss' mir etwas zu erzählen. Ist es nie. Das ist nur ein Angebot, welches ich gerne den Menschen mache. Es ist kein Problem, wenn sie nicht reden möchten." sage ich und kratze mich verlegen am Hinterkopf.
Manchmal habe ich Angst, dass ich Menschen mit meiner direkten Art verschrecke. Auf eine gewisse Weise verstehe ich, wenn sie sich mir verschließe, auf die andere Weise nicht.
"Wir haben uns heute zum ersten Mal gesehen." beginnt die Frau.
"Ich wurde bei meiner Geburt zur Adoption freigegebn und wuchs in Boston bei einer anderen Familie auf. Sie wuchs bei unserer richtigen Mutter auf. Dort wollen wir auch gleich noch hin." sagt der Mann.
"Wir haben und zufällig im Internet kennengelernt und durch ein Foto herausgefunden, dass wir Geschwister sind."
"Mom wird sich freuen, dich wiederzusehen." sagt die Frau aufgeregt und ist fast schon wieder den Tränen nahe.
Er streichelt ihr sanft pber das Haar und bei dem Anblick weicht mein Lächeln nicht aus dem Gesicht. Wie könnte es auch.
Ein leises 'Bing' ertönt und die Fahrstuhltüren gehen auf.
Wir steigen gemeinsam aus und verlassen das Gebäude.
"Ich bin übrigens Monia. Ist immer blöd, wenn man jemand fremdes etwas persönliches erzählt hat, finde ich." sage ich, bevor sich unsere Wege trennen.
"Ich bin Cathi." sagt die Frau und klammert sich an ihren Bruder.
"Und ich bin Frank."
"Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend und eine schöne Zeit." sage ich und setze zum gehen an.
"Danke, wünschen wir dir auch." sagt Frank und gemeinsam verschwinden sie.
Sie verschwinden von dort, wie ich. Nur ich verschwinde nicht in die Stadt, ich verschwinde ans Meer.
Am Meer setze ich mich in den Sand und nehme mein Buch heraus. Dort trage ich die Namen der Beiden ein und ein paar Sätze zu ihrer Geschichte. Nachdem ich fertig bin, klappe ich es zu, lege es neben mich und nehme wieder den Zettel heraus.
Ich lese mir seine kurze Nachricht nochmal durch, dann lege ich ihn neben mich auf das Buch.
Meine Arme schlinge ich um meine Beine und ziehe sie an meinen Körper heran. Meinen Kopf stütze ich auf die Knie und mein Blick liegt auf meinen Schuhen, statt auf dem wunderschönen Sonnenuntergang.
"Dem Sonnenuntergang interessiert es nicht, ob ihn jemand beobachtet. Er sieht wunderschön aus, auch wenn es niemanden zu interessieren scheint."
Ich hebe meinen Kopf und kurz hoffe ich, dass Sebastian hinter mir steht, doch mein Gehirn realisiert schnell, dass es nicht seine Stimme ist.
Es ist ein blonder, großer Mann, den ich nicht kenne. Aber er macht einen netten Eindruck.
"Darf ich?" fragt er und setzt sich neben mich.
"Der Strand ist doch für alle da. Als hätte ich das Recht einen Platz zu vewehren." murmel ich vor mich hin.
So, als wäre ich traurig, obwohl ich es nicht bin. Zumindest denke ich, dass ich es nicht bin.
"Marc." sagt er und reicht mir die Hand.
"Monia." sage ich und gebe ihm meine.
"Den Namen habe ich noch nie gehört."
"Kein Wunder, wer nennt sein Kind schon gerne 'die Einsame' und steckt es so in eine ungemütliche Schublade?" gebe ich mit einem Lächeln zurück.
"Nur weil der Name eine bestimmte Bedeutung hat, muss man doch nicht auch so sein. Manche nennen ihr Kind einfach so, weil's schön klingt. Die Meisten befassen sich doch überhaupt nicht mit der Bedeutung von so etwas." sagt er und nimmt sein Handy.
Jaja, weil's schön klingt. Trotzdem sollte man Bedeutungen nicht komplett ignorieren. Irgendwo gibt es immer wen, der sich dafür interessiert und dich entlarvt. Als denjenigen, der hinter dem Namen steckt und der Bedeutung dessen gerechter wird, als man glauben mag.
Er tippt weiter vor sich hin und ich beachte es nicht weiter. Wieso auch? Er ist irgendein New Yorker, der mir aus Nettigkeit gesellschaft leistet und dadurch eine kurze Rolle in meinem Leben spielt. Da interessiere ich mich doch nicht sofort für jede Tätigkeit, die er macht.
Als ich mich bei diesem Denken ertappe zucke ich leicht zusammen. Manchmal weiß ich gar nicht, warum ich plötzlich so denke und ich so abweisend gegenüber meinem Ich, das gerne Geschichten und Details sammelt, so abweisend und eklig bin. Ich bin nur froh, dass es nie lange anhält und ich nach kurzer Zeit wieder die Alte bin.
"Die Hoffnung, die Einzigartige, die Harmonische, die Einsame. Drei von vier Bedeutungen deines Namens sind positiv und du nimmst die negative. Irgendwie ist das fast schon komisch." unterbricht dieser Marc die Stille.
"Hab ich etwas verpasst oder welche drei davon waren jetzt positiv?" frage ich und sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
Mit fragendem Blick erwidert er meinen Blick.
"Na, die ersten drei?!"
"Hoffnung? Sie scheint positiv, aber das Ding mit der Hoffnung ist ja, dass sie dich eher tötet, als dass sie dir Kraft gibt." sage ich und schüttel den Kopf.
"Einzigartigkeit macht einsam. Sie isoliert von denen, die sich für normal halten. Manche fürchten sie, manche bewundern sie. Aber niemand möchte mit Einzigartigen etwas zutun haben. Niemand möchte so sein wie sie. Und Harmonie. Harmonie ist doch einfach nur eine Illusionen und eine Illusion ist einfaches Nichts." sage ich.
Marc sieht mich an, als hätte ich gerade das Ende der Welt prophezeit. Er scheint von meiner Negativität so erschlagen, dass er gar nichts sagen kann.
Ich weiß, dass er gerade mein Gesagtes ordnet. Dass er vielleicht gar nicht glauben kann, dass ein Mensch so sein kann. Er ist ja auch noch nie einem Menschen wie mir begegnet, schätze ich mal. Und ich denke, dass er zu den Optimisten zählt.
Viele glauben auch, dass ich eine von ihnen wäre, doch ich bin einfach nur gut darin eine von ihnen zu spielen. Aber ich bin auch keine Pessimistin. Ich würde mich als Realistin sehen und das, weil meine Geschichten mir die Realität zeigen. Dort ist positives dabei, keine Frage, doch das Negative gewinnt. Alle sind oder werden noch sterben. Keine Geschichte endet positiv, egal, wie schön sie sein mag.
DU LIEST GERADE
Wenn dir jemand nicht mehr aus dem Kopf geht, gehört er wohl genau dort hin
FanfictionKeiner von uns ist zufällig an dem Platz, wo er gerade steht, sitzt oder geht. Es könnte sein, dass wir an diesem Ort im nächsten Moment etwas Unvergessliches erleben, eine Person treffen, die uns beeinflusst oder nur etwas Kleines, zunächst Unschei...