Kapitel 65

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Das Boot hatte Mara verunsichert. Irgendwie ahnte sie, dass von dort Gefahr drohte, während Nystor ihre Sorge nicht wirklich nachvollziehen konnte. „Das ist doch nur ein Boot! Von diesen Leuten, die unsere Fisch weg fangen! Aber.....“

„Da stimmt was nicht! Ich glaube, es starrt uns an. Oder die Menschen auf dem Boot starren uns an! Lass uns verschwinden!“, bat sie und vergaß sogar ihre Furcht davor, gemeinsam mit ihm zu schwimmen.

Schließlich gab Nystor nach und sie eilten auf das Wasser zu.

Gemeinsam schwammen sie ein Stück nebeneinander her und mit einem Mal fragte Mara sich, warum sie überhaupt Angst vor ihrem Spielkamerad gehabt hatte. Er war ein Hylor, aber er war doch ihr Freund, auch in dieser Gestalt!

Leider konnten sie sich nun nicht mehr miteinander verständigen, denn die Laute, die sie in ihrer jeweiligen Tiergestalt ausstießen unterschieden sich viel zu sehr.

Schließlich trennten sie sich voneinander und jeder kehrte zu seinen eigenen Artgenossen zurück.

Aber bereits ein paar Tage später trieb es Mara wieder zur kleinen Insel. Sie vermisste ihren Spielkameraden und wusste nicht, wo sie ihn sonst treffen sollte.

„Hoffentlich ist Nystor auch da! Und hoffentlich kommt dieses böse Boot nicht,“ dachte Mara während sie sich nervös umsah.

Glücklicherweise war weit und breit niemand zu sehen und sie atmete erleichtert auf, als sie die Gegenwart eines Hylors spürte. Aber trotz ihrer aufkommenden Wiedersehensfreude stellte sich gleichzeitig ein Gefühl der Furcht ein.

Was, wenn es sich nicht um Nystor, sondern statt dessen um einen seiner Artgenossen handelte?

„Hoffentlich nicht. Hoffentlich ist es nicht sein Onkel oder sein Bruder oder ein anderer....“, dachte das Selkie-Mädchen und atmete erleichtert auf, als sie ihren Freund erkannte, der seine Haut abstreifte und aus den Fluten stieg.

„Mara!“, rief er und humpelte ihr entgegen. „War gestern hier....“

Sie schaute ein wenig verlegen zu Boden. Also hatte Nystor es bereits einen Tag vor ihr gewagt, zur Insel zurück zu kehren. Hoffentlich hielt er sie jetzt nicht für eine kleine Angst-Robbe.

„Konnte gestern nicht....,“ stammelte sie daher verlegen, aber er gab ihr glücklicherweise durch nichts zu verstehen, dass er sie für ängstlich oder gar feige hielt.

Sie fragte ihn, ob das merkwürdige Boot noch einmal aufgetaucht war, aber er schüttelte den Kopf. „Kein Boot mehr!“

Hatte sie sich getäuscht? War von den Menschen, die sich auf dem Boot befanden, gar keine Gefahr für sie und den jungen Hylor ausgegangen? Hatte sie überreagiert? Vielleicht sollte sie sich beim nächsten mal ein wenig mehr zusammen nehmen und nicht mehr ängstlich davon schwimmen, sobald etwas geschah, das ihr merkwürdig vorkam.

„War gut, dass wir weg sind!“, sagte Nystor nun und sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Also hatte sie sich doch nicht so sehr blamiert, wie sie befürchtet hatte.

Sie begann gedankenverloren, mit den Fingern im Sand zu spielen. Sie genoss es, wenn der Sand durch ihre Finger rieselte und konnte sich in solchen Augenblicken immer mehr mit ihrer Menschengestalt anfreunden.  Als Robbe war es ihr nicht möglich, auf diese Weise mit dem Sand zu spielen und es fühlte sich anders an, ihn mit Flossen zu berühren.

Nystor schenkte ihr ein Lächeln, aber es verschwand und er starrte mit einem Mal aufs Meer hinaus,.

Mara kannte den Grund. Ein weiterer Hylor näherte sich ihnen....

„Weg hier!“, zischte Nystor seiner Selkie-Freundin zu. „Er dich fressen!“

Mara sah sich nach allen Seiten um, aber nun geschah alles sehr schnell. Mit einer überraschenden Geschwindigkeit stieg ein Hylor ohne Fell aus den Fluten und eilte auf sie und Nystor, der sie zur Seite schob, zu.

Mara erkannte den gierigen Blick im Gesicht des Hylors und sie drückte ihr Fell an sich, ehe sie davon lief und versuchte, einen Haken zu schlagen und an ihm  vorbei ins Meer zu gelangen. Sie hoffte, dass er der einzige war, der Jagd auf sie machte und sie dachte bei sich, dass Nystors Witterung die ihre doch nicht überdeckt hatte.

Wahrscheinlich war es einfach nur Glück gewesen, dass ihre bisherigen Treffen von Selkies und Hylors unbemerkt geblieben waren.

Das Selkie Mädchen kam nicht weit. Mara wurde am Arm gepackt und hochgehoben. Sie schrie um Hilfe, aber sie wusste, dass es nun kein Entkommen mehr für sie gab. Der Hylor hatte sich als schneller erwiesen und auch Nystor würde ihr keine Hilfe mehr sein.

Vielleicht würde er nun sogar ihre Überreste fressen, damit er sich nicht vor seinem Artgenossen verdächtig machte.

Aber dann fiel sie unsanft zu Boden und sie stieß sich ihr Knie, während der Hylor neben ihr zusammenbrach.

Sie sah, dass Blut aus einer Wunde an seinem Kopf floss, aber nach einem kurzen Moment der Bewusstlosigkeit begann er damit, sich zu regen, während Nystor, der noch immer einen Stein in der Hand hielt, ihr aufhalf. Offenbar hatte er den anderen Hylor niedergeschlagen und ihr auf diese Weise wahrscheinlich das Leben gerettet.

„Geh weg. Ich halte auf. Schnell!“

Sie nickte ihrem Freund dankbar zu und hoffte, dass er nicht in Schwierigkeiten geraten würde. Was würden denn seine Artgenossen dazu sagen, dass er ihr half? Würde er mit Strafe rechnen müssen, da er den anderen Hylor angegriffen hatte?

Mara eilte auf das Wasser zu und sie streifte ihre Haut über, auch wenn sie es hasste, Nystor zurück lassen zu müssen.

So schnell sie konnte schwamm sie davon und drehte sich erst um, als sie einen größeren Vorsprung erreicht hatte.

Sie sah, dass sich der ältere Hylor mittlerweile erhoben hatte und auf Nystor zuging. Er holte mit der Hand aus und ihr Freund stürzte zu Boden, als ihn ein kräftiger Schlag ins Gesicht traf.

Am liebsten hätte sie geweint und wäre zurück geschwommen, um ihm zu helfen, aber sie spürte, dass sich weitere Hylor näherten.

Sie waren noch weit entfernt und sie war traurig, dass sie und Nystor die drohende Gefahr erst so spät erkannt hatten, als sie sich auf der Insel befanden....

Wahrscheinlich hatte Nystors Geruch dafür gesorgt, dass sie die anderen Hylor so spät wahrnahm....

Mara schwamm davon, aber ihre Gedanken blieben noch lange bei Nystor.....

Ein paar Tage später wagte Mara sich trotz ihrer Furcht noch einmal zur Insel, aber von ihrem Freund war keine Spur zu sehen. Er tauchte auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht mehr auf. Offenbar achteten seine Artgenossen nun darauf, dass sie sich nicht mehr trafen und es tat ihr leid, ihn verloren zu haben.

Ein schrecklicher Gedanke ging ihr durch den Kopf. Was war, wenn sie ihn sehr streng bestraft hatten? Vielleicht hatten sie ihn zur Strafe sogar gefressen?

„Ich werde Nystor nie mehr wiedersehen!“, dachte sie traurig.

Aber war ihre Freundschaft nicht bereits von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen? Schließlich war sie ein Selkie und er ein Hylor....

SelkiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt