Kapitel 1

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Clary stieß die Tür so fest zu wie sie konnte. Dass Jace hinter ihr war und Mühe hatte, die Tür aufzufangen, bevor sie ihn am Kopf treffen konnte, schien sie gar nicht zu bemerken. "Mach mal halb lang!", forderte er sie verzweifelt auf, während er so gut wie möglich versuchte, ihr auf den Fersen zu bleiben. Wütend wirbelte sie zu ihm herum. "Halblang? Und wie soll das aussehen? Einfach zu akzeptieren, dass sie gerade Sebastian mitgenommen haben, ohne, dass wir uns verabschieden konnten?" "Nun, ich glaube nicht, dass sich groß jemand hätte verabschieden wollen.", gab Jace zu bedenken. Clary verdrehte die Augen und wollte gerade ausfallend antworten, besann sich dann aber doch eines besseren. Mit Jace konnte man über dieses Thema wirklich nicht diskutieren. Nach allem was Jonathan als Sebastian angerichtet hatte, traute er ihm nicht mehr über den Weg. Clary verstand nicht, warum sie nicht das Selbe empfand, sondern tatsächliche Zuneigung für ihren Bruder. Vielleicht, weil er gerade das war. Er war ihr Bruder. Und die beiden verband nicht nur die Tatsache, dass Valentin verrückte Experimente an ihnen vorgenommen hatte, als sie noch Kinder waren. Sie hatten besondere Gaben, die die Geschwister als Team unschlagbar machten. Zwar war Jace auch eines von Valentins Experimenten, doch er schien nicht wirklich mit Sebastian zusammen arbeiten zu wollen. Und für den Kampf hatte er Alec, seinen Parabatai, der ihm auch in jeder anderen Lebenslage zur Seite stand. Niemand konnte ahnen, welches der beiden Kriegerpaare einen Kampf gegen das jeweils andere gewinnen würde.

"Hier." Er griff nach dem Zeichenblock auf Clarys Schreibtisch, an dem ein Stift befestigt war und reichte ihn ihr. Er wusste, dass Zeichnen ihr zwar auch ihren Bruder nicht zurück brachte, sie aber vielleicht ein wenig beruhigen konnte. Und er schien Recht zu haben. Sie kam auf ihn zu und zog den Stift aus der Spirale an der Seite des Blocks. Langsam drehte sie ihn in ihren zitternden Händen und schien nachzudenken. "Nein. Ich kann jetzt nicht hier sitzen und zeichnen. Ich muss irgendwas tun." Sie warf den Stift in die Luft, woraufhin Jace den Block geschickt wie ein U rollte und den Stift auffing, der allerdings sofort in dem Papier versank wie ein Stein in einer Wasseroberfläche.  Jace stutzte. "Clary-", setzte er an, doch sie hatte bereits gesehen, was ihn so schockierte und unterbrach ihn. Sie schien genauso schockiert wie er als sie in den Block griff und ihren Stift wieder zum Vorschein brachte. "Wie ist das passiert? Das wollte ich doch gar nicht!", brachte sie verwirrt hervor. In den letzten Jahren hatte sie ihre Fähigkeit nahezu perfektioniert und solche Fehler sollten ihr eigentlich nicht passieren. Vorsichtig löste Jace den Stift aus Clarys Fingern und umfasste sachte ihr Handgelenk. Der Ärger der beiden war wie weggeblasen. "Du steuerst deine Fähigkeit genau wie ich über deine Gefühle. Wenn du aber so ein Gefühlschaos wie gerade erlebst, dann gerät auch deine Fähigkeit außer Kontrolle. Es mag zwar sein wie Sebastian sagt, dass Emotionen uns Kraft geben, aber wenn sie ungelenkt sind und du sie nicht unter Kontrolle hast, dann kann diese Kraft dir zum Verhängnis werden."

Langsam nickte die junge Schattenjägerin und merkte deutlich, wie sich das Wirrwarr in ihrem Kopf lichtete. Vielleicht vernebelten Emotionen ja tatsächlich das Urteilsvermögen. Sie ließ sich rücklings auf das Bett fallen und zog Jace, der noch immer ihr Handgelenk festhielt, mit. Während sie mit Schwung auf dem Bett auftraf und zurückfederte, landete Jace elegant wie eh und je direkt neben ihr. Mittlerweile wusste sie, dass all diese Bewegungen voller Eleganz auf dem jahrelangen Training beruhten und nicht etwa auf der Kraft der Runen, die seine Haut zierten. Sie selbst hatte sich in letzter Zeit öfter dabei erwischt, wie sie Aufgaben geschickt löste, bei denen sie sich früher sicherlich aus Tollpatschigkeit selbst verletzt hätte. Das Meiste davon war auf ihr intensives Training, das sie größtenteils mit Jace oder Sebastian absolviert hatte, zurückzuführen, da sie selbst eigentlich nur vor Kämpfen Runen auf ihre Haut auftrug, um die Trainingsfortschritte nicht zu verfälschen. Wenn es hart auf hart kam mussten Schattenjäger ohne jegliche Runenkraft auskommen können.

"Was machen wir denn jetzt? Wir können ihn doch nicht einfach so mit ihnen gehen lassen.", seufzte sie. "Leider haben wir keine andere Wahl. Es ist nur zu seinem eigenen Schutz.", erwiderte Jace sanft. Er wollte nicht mehr streiten und es tat ihm auch um Sebastian mittlerweile wirklich leid. Sie rollte sich auf die Seite und kuschelte sich an ihren Freund, der einen Arm um sie legte und sie zu sich heranzog.  "Vielleicht können wir ihn ja besuchen. Oder ihn eines Tagen zurückholen." Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Jace erwiderte nichts, da er ihr keine falschen Träume in den Kopf setzen wollte. Was ihren Bruder betraf war Clary unglaublich naiv. Jace hingegen kannte die Wahrheit: Er würde nur zurückkehren, wenn er tot war.

Demon with WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt