Mi, 23.04.1794

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Ich weiß nicht, wie soetwas geschrieben wird... Ich habe soetwas noch nie geschrieben! Mein Name ist Mary-Alice Blisworth und ich wurde am 23. April des Jahres 1778 als Tochter des Landwirtes Oscar Blisworth und seiner Frau Georgia Sofia geboren . Einer sehr jungen, hübschen Dame. Das war vor 16 Jahren. Heute, zu meinem Geburtstag erhielten wir "hohen Besuch." Mir war er unbekannt, aber als wir in unserem Innenhof standen und der in die Einfahrt rollenden, feinst aussehenden Kutsche entgegenblickten flüsterte Vater Mutter zu, es müsse sich hierbei um seinen Cousin Chadwick handeln. Von ihm hatte ich schon einige Male etwas gehört.

Mister Chadwick Rodney Greyson und seiner Gattin Haleigh waren die letzten, für viele von uns Bauern verheerenden Jahre, in welchen ganz Großbrittannien eine industrielle Revolution erlebte, wohl bekommen. Den neuen, angeforderten Dimmensionen an produzierten Gütern, die sich aus der Erfindung ach so vieler Maschinen ergab, standzuhalten war uns allen unmöglich. Viele der benachbarten Ländereien waren schon Großgründen einverleibt worden. Ihre Besitzer hatten alles verloren, während die neuen aufsrebenden Lords reicher und reicher wurden. „Onkel Chadwick" war so ein Mann. Er und Vater verschwanden bereits kurz nach der Begrüßung in der Stube, während Mutter Haleigh auf einen Tee in unsere Küche einlud. Aelfred , Harriott und Timothy arbeiteten wohl gerade im Stall und wurden dabei von Abbie behindert. Ich hatte mich gewundert wieso Vater heute nach dem Mittag nicht wieder zur Arbeit zurückgekehrt war, aber jetzt war mir klar, dass er den Besuch wohl erwartet haben musste. Ich hatte noch mit Mutter abgewaschen, als unsere unverhofften Gäste ankamen und erhielt auch nicht die Möglichkeit später meinem großen Bruder und meinen anderen Geschwistern zur Hand zu gehen. Stattdessen verlangte Haleigh von mir, mich zu ihr und „deiner reizenden Frau Mutter" zu gesellen. Auf mich wirkte sie aufgesetzt. Mit viel Aufwand musste ihre Zofe ihr wohl den Hut auf die zuvor kunstvoll hochgesteckten Haare drappiert haben. Sie trug ein farblich auf ihre Kopfbedeckung abgestimmtes Kleid und schien bei jeder Bewegung darauf zu achten weder etwas zu berühren, dass ihre Kleidung hätte verschmutzen können und war abgesehen von den in erdbeerrot angemalten Lippen und Wangen so erschreckend blass, dass ich mich fragte, ob sie je die Sonne gesehen hätte, oder mit einem in Mehl oder ähnlichem Stupp eingetunkten Gesicht als Gauklerin auf einem Markt auftreten wollte. Selbstverständlich in einer größeren Stadt, als dem nächst gelegenen Mawdesley. Obschon ich sie und sie vermutlich auch mich noch nie gesehen hatte verfiel sie sofort mit mir in eine Art Unterhaltung: „Und wie fühlst du dich als junge Dame? Und so reizend wie du bist! So eine kleine oder nein - eine große Zuckerpuppe - du kommst wohl ganz nach deiner Mutter... Diese strahlend blauen Augen, der Korall der Lippen, herrlich diese Jugendlichkeit! Ich habe dir etwas mitgebracht du hübsches Ding: Hierin sollst du alle deine Geheimnisse und tiefsten Gefühle - die sollten schließlich langsam erwachen - verwahren! Ist es nicht wunderschön? Ein Büchlein so fein, macht dein Herz dir ganz rein würde Misses Greyson - Gott hab sie seelig - jetzt sagen. Eine weise Frau, eine sehr weise Frau... Auch sie hatte Tagebücher! Notiere darin deinen Tag, was du denkst was du fühlst, oh... Pardon! Kannst du denn überhaupt schreiben? Wie unachtsam von mir, ach verzeih mir, hätte ich dir doch bloß etwas anderes mitgebracht. Ich vergaß, dass du ja auf dem Land wohnst! Ach nein, oh nein. Aber ich finde eigentlich, dass auch hier das Volk all soetwas lernen sollte, ich meine dass ist doch..." - „Ich kann lesen und schreiben. Vielen Dank für das großzügige Geschenk und all die Komplimente... Ich kann eure Reden über meine angebliche Schönheit der Lady nur zurückgeben! Und das Buch noch heute Abend will ich etwas darein schreiben!" Vielmehr trug ich zu dieser Konversation nicht mehr bei. Ich verabschiedete mich noch höflich und brachte an, dass ich wohl noch meinen Geschwistern helfen müsste um so eine Gelegenheit zu schaffen, in welcher ich entflüchten konnte. So viel lieber wollte ich meine Hände im weichen Fell einer Kuh vergraben; stattdessen war ich ständig der Versuchung ausgesetzt sein unserem eitlen Besuch gegenüber sehr, sehr unhöflich zu werden - und das obschon des „großzügigen Geschenkes (und der vielen Komplimente)"... Letzteres klammere ich bewusst ein. Ich wusste nicht was mich an diesem Ehepaar so sehr störte, doch da war etwas. Keine 30 Sekunden später sollte ich herausfinden, was.

Auf dem Weg nach draußen hörte ich die mir noch nie so rau und traurig erklungene Stimme Vaters aus der Stube und ich sollte eine furchtbare Entdeckung machen: „Also ist das die Vereinbarung? Du übernimmst mein Heim, meinen Hof und meine Schulden?" Ich blieb stehen und lauschte unwillkürlich dem fremden, antwortenden Mann. „Aber mein lieber Oscar, schaue doch nicht so bedrückt! Wir beide können aus diesem Geschäft nur gestärkt hervorgehen! Einen Esel überlass ich dir, um euch den Umzug in die Stadt leichter zu gestalten! Das ist ein großzügiges Angebot! Die finanziellen Rückstände sind so groß, wie das Land wert ist; von all dem wirst du fortan frei sein! All die Verpflichtungen! Und ich werde dein Gut angemessen pflegen! Mach dir darum keine Sorgen, mein Besitz ist mittlerweile so groß, dass ich gelernt habe, auch bestens damit umzugehen..." Ich rannte. Zur Tür, zum Gatter, In den Stall. Ohne klar denken zu können warf ich mich ins Heu. Ich lag dort eine ganze Weile lang. Mir fiel das Buch in meinen Händen auf. Solche Gefühle, die erwachen würden und die ich festhalten sollte, hatte „Lady Greyson" sicherlich nicht gemeint, aber ich entschloss mich dennoch, heute Abend dort hineinzuschreiben.

Ich dachte über meinen bisherigen Tag nach. Heute morgen aufgewacht, zog ich mich an und ging in die Küche. Zusätzlich zu meiner Familie fand ich dort auch - was mich sehr freute - Rosemarie vor. Die ältere Frau lebte früher auch auf einem der Höfe rund um das Moor und den Wald herum, war aber nachdem ihre zwei Söhne und ihr Mann, welche bei Gewitter versucht hatten, die Ernte gerade noch zu retten, durch einen umstürzenden Baum getötet worden waren vom Land geflohen und nach Mawdesley in die Dachkammer des einzigen Wirtshauses weit und breit gezogen, in dem sie auch Arbeit gefunden hatte, sodass sie ihren Lebensunterhalt ohne allzu große Probleme bestreiten konnte. Ich trat in das Zimmer und alle sangen fröhlich ein Geburtstagslied. Mutter und Rosemarie hatten wohl für einen kleinen Kuchen zusammengelegt und die Frau, die wie eine gute Freundin oder große Schwester für mich geworden war legte sofort ihre Arme um mich um mir herzlich zu gratulieren. Kurz darauf war sie aber auch schon verschwunden gewesen - schließlich musste sie arbeiten und auch wir machten uns an das Versorgen der Tiere. Kurz nach dem Mittagessen hatten wir dann ja Besuch bekommen. Unerwünschten Besuch.

Ich stand auf. Ich konnte hier nicht ewig liegen und den würzigen Duft des Heus einatmen auch wenn ich wusste, dass ich dies nicht mehr allzu oft würde tun können. Wielange noch wusste nur der liebe Herrgott. Und vielleicht entschied sich Vater ja doch gegen einen Umschlag unseres Zuhauses. Ich betete dafür.

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