Do, 24.04.1794

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Bereits als ich heute morgen aufwachte, spürte ich, dass alles anders werden würde und ich sollte recht behalten. Nach dem Frühstück erreichte das Hufgetrappel der Pferde Chadwicks unseren Hof erneut und wieder verschwanden Vater und er in dem großen Zimmer mit dem Kamin. Und auf ein Neues begann ich zu laufen. Wie am Tag zuvor, nur das heute mein Ziel ein anderes war: Nicht auf den Heuboden rannte ich zu, sondern heraus aus dem Hof und den schmalen Weg zu der Kapelle auf dem Hügel hinauf.

Dort angelangt atmete ich zunächst tief durch bevor ich eintrat. Ich zitterte, doch ich wusste nicht ob das von der Kälte kam, die das durchwachsene Aprilwetter mit sich brachte oder eher von dieser unangenehmen Neuigkeit, welche ich nun langsam zu realisieren begann. Ich bekreuzigte mich mit dem Weihwasser aus dem kleinen Becken im Eingang des Baus, der mir plötzlich soviel Geborgenheit wie noch nie zuvor zu übermitteln schien. Vor dem Altar kniete ich nieder und tat, was ich auch schon am gestrigen Abend getan hatte: beten. Dieses Mal nicht dafür, hier, in Mawdesley, meiner Heimat bleiben zu dürfen, nein - auch der Vater im Himmel konnte vermochte wohl nicht, etwas solches für mich zu erwirken, wenn alle Umstände dagegen sprachen - aber dafür zu überleben, trotz all der Schauergeschichten die ich über die hohe Kriminalitätsrate, die eiskalten Fabrikherren und die ungesunden Arbeitsbedingungen gehört hatte, und, wenn irgend möglich glücklich zu sein und vielleicht eines Tages hierher zurückkehren zu können, wenn auch nur zu Besuch. War das möglich?

Den Weg nach Hause tat ich etwas gemäßigter, nur um gerade bevor ich angekommen war, meinen "Onkel" und sein Gefolge seinen Rücktritt antreten zu sehen. Gut so - sonst hätte ich befürchten müssen ihm vor die Füße zu spucken, wenn er mir die Hand hätte geben wollen.

Ich beschloss, niemanden an meinen Gefühlen teilhaben zu lassen und begann, die Kühe zu melken. Eine gute Gelegenheit, um mich innerlich von ihnen zu verabschieden. Ich fragte mich, wie viel Zeit uns noch bliebe und der Tag verging.

Abends beim Essen war es dann soweit: Vater sprach leise, er klang niedergeschlagen. "Ihr wisst, wir haben nicht viel Geld! Die Zeit ist gekommen, wir müssen den Hof verlassen. Euer Onkel Chadwick ist so nett in uns abzukaufen" Abigail begann zu weinen und lief aus dem Zimmer. "Georgia, wärest du so gut?" "Wann?", fragte Aelfred barsch, als Mutter verschwunden war. "Zum ersten des nächsten Monats... Bitte..." Vater war nicht nur niedergeschlagen. Ich werde dieses Bild nie vergessen. Wie er dort saß. In sich zusammen gesunken, ein Blick der sagte "Ich habe versagt, ich schäme mich!" Wahrscheinlich klang das 'ich weiß' meines großen Bruders deshalb etwas sanfter. Wie ich ihn liebe, meinen Aelfred... Ich erinnere mich immer gerne an meine Kindheit, weil ich dort immer das Gefühl gehabt hatte, er würde mich vor allem Bösen in der Welt schützen. Ob vor den Jungen aus Mawdesley oder wenn ich mal wieder wegen eines Gewitters geweint hatte, er war immer da gewesen und hatte die Welt für mich ein Stückchen heller gemacht. Doch hiergegen vermag auch er nichts zu tun.

Es ist schmerzhaft zu wissen, wie weh ihm das tuen muss. Er kennt die Gegend, kennt den Hof noch besser, er liebt das alles hier noch mehr. Übermorgen werden er und Vater Arbeit und Unterkunft für uns suchen gehen. Wo anders. Wo ich nicht hin will. Mit jedem dieser Gedanken zieht sich meine Brust ein Stück weiter zusammen. Sie zerquetscht mein Herz. Meinen Lebensmut.

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