Di, 20.05.1794

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All die Zeit verstreicht. Schon wieder sind es mehr als sieben Tage seit meinem letzten Eintrag. Die anfängliche Euphorie, die ich für dieses Buch aufbringen konnte verfliegt mit der Zeit, die dahin streicht, ohne dass etwas geschieht. Ich weiß einfach nicht was ich schreiben soll. Das Brodericks Husten immer schlimmer wird? Wir alle versuchen uns von ihm fern und vor allem die Kinder aus seiner unmittelbaren Nähe heraus zu halten. Doch wie kann das gelingen, wenn man allezeit eingepfercht lebt, in diesen Räumlichkeiten? Nicht nur diese Zimmer, die ganze Stadt ist eng. Dazu kommt das Mitgefühl. Wenn jemand dir gegenüber unter Atemnot leidet, kannst du dann nichts tun? Einfach zusehen? Es ist schlichtweg unmöglich. Zumal er einem immer das Gefühl vermittelt, er würde sein letztes Hemd für einen von uns geben. Mit Sicherheit würde er das, wenn es uns hielfe.

Die Spinner haben jeden Monat einen Tag frei. Selbstverständlich alle an verschiedenen, damit der Betrieb ungestört fortlaufen kann. Heute war Mutter an der Reihe. Sie hat sich auch sofort um die Kleine zu kümmern begonnen. So wie sie es früher jeden Tag getan hat. Rührend und lieb. Kann ich ihr eine gute "Mutter" sein? Auch wenn es dafür keinen Grund gibt, da sie sich bester Gesundheit erfreut, versuche ich doch, ihr das Gefühl dieser unbedingten Liebe zu vermitteln. Anstatt aus zu schlafen hat sie für uns alle ein Frühstück gemacht. Als wollte sie, das ich mich erhole. Als wäre es mein freier Tag. Wovon? Ich weiß es nicht. Trotzdem ließ sie nicht zu, dass ich heute einen Finger rührte. Stattdessen schickte sie mich los, einen Spaziergang zu machen.

Es wird Sommer, doch der Himmel bleibt grau. Die Tage sollten länger werden, aber das sieht man durch den ewigen Schleier des Himmels über der Stadt nicht. Auch sie, jedes Haus, jede Witwe ist dunkel. Ein leeres Gefühl erreichte mich, als ich am großen Fluss stand. Nach kaum 500 Fuß kehrte ich um. Zurück in mein sicheres zu Hause, wo ich wenigstens die Wärme von Abbies und Mutters Augen spüren durfte.

Ich konnte eben diese davon überzeugen, dass es wenigstens an mir sein müsse, das Abendbrot zu zubereiten. Schon bald kamen die anderen von der Arbeit heim und wir setzten uns alle um den schäbigen, aber großen, runden Tisch, in dessen Mitte - wie jeden Abend - der große Messingkessel, zur Hälfte gefüllt mit dampfender Suppe stand. Wie immer schwiegen zunächst alle still und tranken ihre Schüsseln leer, bis Carter begann von seiner Arbeit zu erzählen. Scheinbar war er demnächst zum essen mit seinem Abteilungsleiter eingeladen, welcher sich mit ihm über seine beruflichen Kompetenzen unterhalten wollte. Dass auch Aelfred eingeladen war, interessierte niemanden, da nicht er, sondern Jane und Aldwyns ältester Sohn wie immer das Gespräch oder besser den Monolog führte. Niemanden scheint das zu stören - welch schöne Neuigkeit - und mir scheint es, als wäre sein Vater sichtlich stolz auf den intelligenten Sprössling. Mechatroniker. Vielleicht bald Ingenieur. Was auch immer er ist oder sein wird, auf mich wirkt er gänzlich unsympathisch. Noch weniger Begeisterung für seine Rede kann ich aufbringen, seit ich Aelfreds traurigen Blick gesehen habe. Wie sehr wünscht sich wohl auch er Anerkennung... Aber scheinbar sind unsere Eltern bereits jetzt schon abgestumpft, nicht mehr in der Lage, diesen Stolz auf zu bringen und zu zeigen. Mir scheint, als hätte der Grauschleier der Stadt, die dünne Schicht Kohle, die sich auf allem ablegt, was nicht erquickt und lebendig ist, nun auch meine Eltern bedeckt. Die Taubheit tröstet und umgarnt. Sie fängt ein, wie das Netz einer Spinne.

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