Nach ein paar Sekunden öffnete ich sie wieder. Jetzt war es warm und sonnig, der Wind wehte nur leicht. Ich warf einen Blick auf das Hotel. Obwohl sich nie jemand im Hinterhof aufhielt, sah es selbst von hier nobel und gepflegt aus. Ich fuhr mir mit den Fingern kurz durch die Haare, um nicht ganz so sehr aufzufallen. Dann verließ ich den Hinterhof und betrat das Gebäude. In der prunkvoll eingerichteten Eingangshalle war es recht voll. An der Decke hatten Stuckateure großartige Arbeit geleistet. Einige Teile der kunstvollen Verzierungen waren mit Blattgold überzogen. Die Menschen hier hatten alle vornehme Sachen an, Anzüge und Kleider. Ich kam mir für so ein Hotel fast zu schäbig vor.
Auf der wunderschönen Wendeltreppe ging einer von vielen Pagen hinauf. Ohne viel zu überlegen, holte ich ihn ein.
"Hallo", sprach ich ihn an.
"Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Ich bin neu hier als Page und brauche noch eine Uniform, aber ich finde den Raum nicht."
"Wir haben ganz neue Uniformen. Die gibt es direkt dort hinten. Aber das haben Sie nicht von mir, Kollege!"
Ich bedankte mich bei meinem "Kollegen" und ging in die Richtung, die er mir gezeigt hatte. Die Tür sah aus wie jede andere - braun mit goldenen Rändern, nur mit dem Unterschied, dass hier ein Schild mit der Aufschrift: "Nur für Personal" hing. Ich drehte den Türknauf, trat ein und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Es war stockdunkel, darum tastete ich an der Wand nach einem Lichtschalter und knipste das Licht an.
Der Raum hier war ziemlich klein. An einer Wand stand ein großer Schrank, in den man seine normalen Anziehsachen legen konnte, an den übrigen Wänden befanden sich solche Kleiderstangen, wie man sie in Modegeschäften sieht, bestückt mit roten Pagenuniformen in verschiedenen Größen. Darüber hing an jeder Wand ein Regal, auf dem passende Hüte und weiße Handschuhe lagen, und auf dem Boden standen einige Paare von schwarzen Lederschuhen. Ich suchte mir alles passende, sowie ein Ersatzpaar Handschuhe heraus und zog mich auf der Stelle um. Meine alten oder eher neuen Klamotten aus dem 21. Jahrhundert legte ich zusammengefaltet in den Schrank, mein Messer versteckte ich in einer der Taschen meiner Uniform. Ich überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte, als plötzlich die Tür aufging. Ein Mann mit schwarzem Anzug schaute mich ein verärgert an. Scheisse. Ich war also aufgeflogen.
"Ist das dein Ernst?! Du siehst doch, was hier los ist! Und da denkst du dir: 'Hach, ich mache erstmal schön Pause im Ankleideraum', oder wie?! Das lasse ich nicht dulden. Mach dich gefälligst an die Arbeit!"
Ich starrte den Fremden verdutzt an.
"Na, wird's bald?"
"Verzeihung", nuschelte ich.
Er wartete offenbar darauf, dass ich ging, also tat ich es auch. Ich war unglaublich erleichtert. Er hatte also nicht bemerkt, dass ich gar nicht hier arbeitete. Ich schaute mich um und beschloss, zum Schalter zu gehen.
"Hallo. Ich habe einen Kunden mit Schlafstörungen und habe ihm gesagt, ich werde ihm einige Tabletten bringen. Könnten Sie mir sagen, wo ich welche her bekomme?", fragte ich so höflich wie möglich.
Die Frau hinter der Theke antwortete: "Versuchen Sie es doch mal in der Küche." Als sie meinen fragenden Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: "Geradeaus und dann links."
"Vielen Dank", antwortete ich und folgte ihrer Wegbeschreibung.
Die Uniform verschaffte mir Zutritt zu sämtlichen Räumen, so auch der Küche. Sie war sehr groß und viele Köche eilten hektisch umher. Man hörte Teller klappern, Wasser brodeln und Öl zischen. Die Gerüche von leckerem Essen stiegen mir in die Nase und ich hätte am liebsten selbst etwas gegessen. Aber ich war nicht zum Essen hier. Stattdessen fragte ich eine Köchin mit braunen Kringellocken nach dem Essen für Zimmer 745.
"Gerade fertig!", rief eine andere Köchin in der Nähe, die kurzerhand mit einem kleinen, voll beladenen Speisewagen auftauchte.
"Danke. Haben sie auch ein paar Schlaftabletten? Der gute Herr Greystone schläft nicht gut", meinte ich.
"Natürlich", strahlte sie und schickte mich in eine abgelegene Ecke, in der noch andere Medikamente standen.
Leider konnte ich keine richtig harten Sachen entdecken. Gratis-Stoff - das wäre mal was gewesen. Ich schnappte mir ein Fläschchen mit Schlaftropfen, denn die waren für mein Vorhaben noch besser geeignet, und verließ die Küche.
Schon bald hatte ich einen Aufzug gefunden, mit dem ich nach oben fuhr. In der heutigen Zeit, also 2014, funktionierte er schon lange nicht mehr.
Zimmer 745 war schnell gefunden. Ich klopfte dreimal schnell hintereinander an die Tür. Was sollte ich jetzt tun? Warten, bis jemand aufmachte? Oder besser den Zimmerservice rufen? Ich entschied mich fürs Warten. Leider machte niemand auf. Ich klopfte nochmal und änderte meine Strategie ins Rufen um. Die Tür wurde langsam geöffnet. Ich wollte gerade eine Begrüßung aussprechen, als die Frau vor mir, vermutlich Mrs. Greystone, den Zeigefinger vor den Mund hielt. Sie ließ mich eintreten und ich erblickte Mr Greystone mit Kind auf dem Sofa. Offenbar schlief der kleine Thomas. Beim Anblick einer so liebevollen Familie bekam ich einen Stich ins Herz. Die Mutter eilte wieder zu ihrem Schützling zurück, während ich den Wein einschenkte und unbemerkt die richtige Dosis an Schlaftropfen einfüllte. Nun schaute Mr Greystone auf und nahm sich ein Glas, das andere reichte er seiner Frau. Dann stießen sie an und tranken. Ich musste meinen Aufenthalt nur ein paar Minuten hinauszögern, bis die Tropfen ihre Wirkung zeigten.
"Soll ich den Tisch für sie decken?", bot ich deshalb an.
"Oh ja, das wäre sehr nett. Danke", antwortete der Vater. Also machte ich mich an die Arbeit.
Nach einer halben Minute murmelte Mrs. Greystone: "Weißt du, Josef, ich werde mich ein wenig aufs Ohr legen. Fang ruhig schon mal ohne mich an", und stand auf.
Während sie Richtung Schlafzimmer lief, kippte sie plötzlich um. Im gleichen Moment nickte auch ihr Mann ein. Jetzt musste ich handeln. Ich nahm mir Thomas und legte ihn in sein Kinderbett, das im gleichen Raum stand. Dann zückte ich mein Messer und erledigte meinen Auftrag. Danach streifte ich meine schmutzigen Handschuhe ab, zog mein Ersatzpaar an und verließ das Zimmer. Unterwegs zum Umkleideraum warf ich meine alten Handschuhe unauffällig in einen Mülleimer.
Als ich mich umgezogen hatte, prüfte ich nach, ob alles da war. In meiner Jacke befanden sich links meine Tabletten und die Tropfen, die ich eingesteckt hatte, in der rechten Tasche lag mein Geld. Das Messer hatte ich in einer Innentasche verstaut. Ich verließ den Umkleideraum, dann das Hotel und schließlich das Jahr 1958.
DU LIEST GERADE
Jikan - Unglaublich Unwiderruflich Unwiderstehlich
ParanormalSajpyato ist ein drogensüchtiger Junge im Alter von 18 Jahren, der in der Zeit reisen kann. Er verdient sein Geld mit dem Ausführen von geheimen Aufträgen in der Vergangenheit, obwohl dies eigentlich verboten ist. Der Junge ist ziemlich alleine, bis...