Kapitel 2: Ein Anruf

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Ein lautes Tuten ließ mich schlagartig wach werden. Das Geräusch kam von rechts. Ich schaute neben mich auf den Boden und entdeckte mein Handy. "Anonym", stand da, aber ich konnte mir denken, wer das war. Ein neuer Auftrag! Ich nahm es in die Hand und drückte den grünen Hörer.

"Sevratyo Jhonja Eztyubo", sprach die Stimme am anderen Ende der Leitung.

"Ujentyo Grivonsis Mosenghi", antwortete ich auf die jikanische Parole. Jikanisch war die Sprache aller Jikan, die Sprache derer, die so waren wie ich. "Numenjato 5-0-6-2-7-6-4", hängte ich noch an. Das war mein persönlicher Code. Der Anrufer fuhr auf jikanisch fort.

"Das Jahr ist 1958. Du musst ein Neugeborenes namens Thomas Greystone vernichten. Sein Geburtstag ist der 30. Mai. Er lebt mit seinen Eltern im Hotel. Zimmer 745. Noch Fragen?"

Eigentlich hätte ich gern gewusst, wie hoch die Bezahlung ausfallen würde, aber es war sehr unhöflich, danach zu fragen.

Stattdessen antwortete ich: "Nein. Habe verstanden. Ich werde mich unverzüglich auf den Weg machen. Kyimoga Estromanji."

"Kyimoga Estromanji." Damit war die Unterhaltung beendet.

Ich streckte meine Muskeln und machte Anstalten, aufzustehen, was gerade ziemlich anstrengend war. Nach einiger Zeit mühsamer Arbeit hatte ich es geschafft. Ich ging die zwei Meter zu meinem Spiegel am Schrank in Zeitlupe, sodass ich die Strecke innerhalb von einer halben Minute hinter mir hatte. Endlich konnte ich mich betrachten.

Ich hatte wirklich schon mal besser ausgesehen. Meine schwarzen Haare waren ziemlich zerwühlt, unter meinen leuchtend grünen Augen zeichneten sich kleine Falten und dunkle Ränder ab. Diese Augenfarbe besaßen alle Jikan. Ich betrachtete nochmal genau mein Gesicht und musste feststellen, dass ich eher wie ein 25-Jähriger aussah, nicht wie ein 18-Jähriger. Als ich weiter an mir hinab schaute, merkte ich, dass die blassen Narben sowie meine Muskeln mich auch älter wirken ließen. Ich konnte den Anblick nicht länger ertragen und riss den Schrank auf, um mir was zum Anziehen zu schnappen und überlegte, ob ich mir ein T-Shirt überziehen sollte, ließ es aber dann doch bleiben. Ich ging mit meinen Klamotten ins Badezimmer gegenüber. Alle, die auf meinem Flur wohnten, benutzten das gleiche Bad. Das waren schätzungsweise zehn weitere Personen, deswegen wunderte es mich auch nicht, dass mir eine Frau in dem engen Vorraum entgegenblickte. Sie war so an die fünfzig und wirkte äußerst überrascht. Angenehm überrascht denke ich, denn sie konnte ihre Augen kaum von meinem Oberkörper abwenden. Insgeheim dachte ich, ich hätte mir doch etwas überziehen sollen.

Nachdem ich fertig war, zog ich mir meine Jacke über und packte ein Messer ein. Dann machte ich mich auf den Weg nach draußen, um mir was zu essen zu holen, denn ich hatte richtig Kohldampf. Es war ein scheußliches Wetter. Der Regen peitschte mir um die Ohren und die sowieso schon schmutzige Straße wirkte durch durch die Nässe noch ekeliger. Sofort fragte ich mich, wieso ich mich überhaupt gekämmt hatte. Ich schaute auf die Uhr an einer Kirche. Es war acht Minuten nach zwölf. Scheisse! Jetzt konnte ich mir nicht mehr meine Lieblingsbrötchen holen. Grummelig stapfte ich die Straße entlang Richtung Bäckerei. Nicht Richtung Lieblingsbäckerei. Ich kaufte mir ein paar zweitklassige "Goldbacken" bei einer unfreundlichen Verkäuferin und durchdachte beim Verzehren nochmal meinen Auftrag. 1958 war also mein Ziel. Thomas Greystone. Zimmer 745.

Nach dem Essen lief ich wieder durch den Regen zum Hotel. Allerdings trat ich nicht ein, sondern versteckte mich im Hinterhof. Wie praktisch, dass Greystone 1958 auch hier gelebt hatte. Ich wägte kurz ab, welchen Tag ich nehmen sollte, dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich. Mein einziger Gedanke war: Siebter Juni 1958.

Jikan - Unglaublich Unwiderruflich UnwiderstehlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt