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Im Jahre 1910 brachte der holländische Künstler Edvard Munch sein wohl bekanntestes Gemälde ‚Der Schrei' mit Öl und Tempera auf ein Stück Pappe. Das Gemälde zeigt eine menschliche Gestalt vor einem Blutroten Sonnenuntergang und einer verschwommenen Seelandschaft. Die Gestalt hält sich die geisterhaften Hände an die Wangen und der Aschfahle Mund ist weit und rund. Geöffnet zu einem Schrei.

Munch verarbeitete in diesem Gemälde eine Panikattacke, die er in seiner ländlichen Heimat bei den Fjorden im heutigen Oslo erlebt hatte. Er sagte, er habe die Natur Schreien gehört.

Bevor er das Gemälde gemalt hatte, war er für eine Zeit in Berlin und Südfrankreich gewesen. Städte, die zu jener Zeit ihren Industriellen Höhepunkt erreichten, wo Fabriken mit Meterhohen Schornsteinen in den Himmel schossen und die Luft nach Ruß und Rauch schmeckte. Wo die Flüsse sich verdunkelten und die Menschen in ihren dreckigen Kleidern und braunen Mützen in sich einfielen. Städte, die expandierten, anschwollen wie ein aufgeblasener Luftballon, während die Menschlichkeit den Atem verlor und langsam verkümmerte. Eine Zeit in der es keine Antworten auf die Soziale Frage gab und die Welt sich immer schneller drehte, während die Tage langsam und leblos dahin strichen. Maschinen, Fabriken, Schornsteine, Fließbandarbeit, Stundenlanges Arbeiten, keine Freizeit, wenig Lohn, kaum Lebensraum und so weiter.

Aber nicht in Berlin oder in Südfrankreich hörte Munch den verzweifelten Schrei der Natur, sondern erst in seiner Heimat, wo menschliche Hand die Natur noch nicht erreicht hatte. Erst hier bemerkte er was die Menschheit verrichtet hatte.

Erst in der ungeschätzten Natur verstand er was die Rußverschmierten Gesichter der Berliner Arbeiter tatsächlich verloren hatten. Und die Natur schrie. Weil die Natur verloren hatte und der Mensch sie nicht mehr brauchte. Die Natur schrie.

Kyungsoo schloss die Augen. Senkte Kim Minseoks Artikel auf seine Knie und spürte wie sich eine Faust um sein Herz schloss. „Liegt es vielleicht in der Natur des Menschen sich vor Wandel und Änderungen zu fürchten? Bemerken wir erst was wir verloren haben, wenn wir einen Vergleich anstellen?"

Er dachte an Munch und den Schrei der Natur und musste seinen eigenen Schrei hinunterschlucken.

***

Kyungsoo hatte sich schrecklich gefühlt, als er an jenem Nachmittag aus Jongdaes Wohnung gestürmt war. Seine Wut und Verbitterung hatten ihn überrollt und er hatte sich wie ein verantwortungsloser Teenager verhalten und blind Reißaus genommen. Er hatte erwartet Jongdae würde ‚Fine Arts' melden, wie unprofessionell er sich verhalten hatte (Himmel er hatte eines seiner Gemälde zu Boden geworfen) aber Jongdae ließ die Szene zwischen ihnen unerwähnt.

Er hatte es geschafft die letzten Wochen nur über Telefon mit ihm zu kommunizieren, weil er es, unabhängig von seinem schlechten Gewissen, dennoch nicht über sich brachte Jongdae wiederzusehen aber damit musste jetzt Schluss sein.

Er klingelte an Jongdaes Tür und versuchte einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Nicht Jongdae, sondern Jongin öffnete ihm die Tür. Das Lächeln aus Jongins Gesicht verschwand augenblicklich und wurde von etwas kälterem ersetzt.

„Kyungsoo-sshi", grüßte er ihn und öffnete die Tür etwas weiter. Der Schatten ihres katastrophalen Abendessens, von vor einer Woche, hing noch über ihnen. „Jongdae ist gerade verschwunden aber er sollte gleich wiederkommen."

„Hat er unseren Termin vergessen?"

Jongin schüttelte den Kopf. „Ein wichtiges Gespräch mit dem Vermieter ist spontan dazwischengekommen - Jongdae ist deshalb in sein Büro gegangen. Eigentlich sollte er bereits zurück sein" Jongin zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich streiten sie."

Blüten so kalt wie SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt