Sechzehn

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Die Kälte der Fensterscheibe, an der meine Stirn ruht, bildet einen Kontrast zu den warmen Tränen, die ich immer noch zu unterdrücken versuche.
Es fühlt sich an, als wäre mein ganzer Körper und viel mehr noch meine Seele taub, abgegrenzt von der Realität.
In der Fahrerkabine herrscht vollkommene Stille.
Alysanne hat noch kein einziges Wort gesagt, seit wir vor knapp einer halben Stunde losgefahren sind.
Ich sehe zu der Rothaarigen hinüber, welche sich auf die Straße konzentriert. Leicht räuspere ich mich. Ich muss mich eindeutig auf andere Gedanken bringen.
»Wie lange...«,meine Stimme bricht leicht, weswegen ich neu ansetzen muss,»Wie lange werden wir denn fahren?«
Meiner Stimme klingt in meinen Ohren so fremd, als hätte ich mich selbst noch nie sprechen gehört.
Alysannes Blick wendet sich nicht von der Straße ab, als sie mir antwortet.
»Nach Dysia? Durchgefahren knapp sechzehn Stunden von Ellisville aus, aber wir fahren jetzt noch einen Umweg nach Lucedale und verbringen dann die Nacht in einem Motel. Also werden wir dann ungefähr morgen oder übermorgen da sein, denn die letzten Kilometer müssen wir zu Fuß zurücklegen«,erklärt sie und ich runzele leicht die Stirn, während ich mich bequemer hinsetze und meinen Rücken leicht an die Tür lehne.
»Was wollen wir in Lucedale?«,hake ich nach.
»Wir werden nicht nur zu zweit reisen. Es gibt noch einen jungen Bluthexer den die Lyceray aufgespürt haben«,meint sie und ich nicke leicht.
»Achso.«
Kurz herrscht wieder Stille im Wagen, aber ich frage lieber schnell weiter, bevor ich wieder anfange nachzudenken.
»Wie ist Dysia so? Und wo ist es?«,meine ich interessiert. Wenn ich schon blind an einen fremden Ort gehe und dafür alles hinter mir lasse, will ich wenigstens wissen, was mich dort erwartet.
Ein Lächeln erscheint auf dem Gesicht der jungen Hexe, so als würde sie an eine süße Kindheitserinnerung denken.
»Es ist wunderbar«,lächelt sie glücklich,»Es liegt in Colorado in den Ausläufern der Rocky Mountains, weit abseits von Menschen und Städten, unterirdisch mitten im Gebirge. Nur Hexen können es Betreten aufgrund einer Vielzahl von Schutzzaubern, somit ist es sicher für uns.«
Es überrascht mich mit welchem Enthusiasmus sie über diese Stadt redet.
»Es klingt als wärt Ihr dort aufgewachsen«,schlussfolgere ich und ziehe mein Knie zur Brust, um die Arme darum zu legen, während ich sie interessiert ansehe.
»Bitte, du kannst mich duzen. Und ja, das bin ich. Aber selbst, wenn ich nicht schon immer dort lebte, würde ich es lieben. Man muss es lieben. Vorallem wenn man eine Bluthexe ist, du wirst verstehen was ich meine, wenn du erst einmal dort bist. Abgesehen davon ist es wunderschön«,schwärmt sie glückselig weiter, was sogar mir ein leichtes Schmunzeln entlockt. »Aber du sagtest doch es ist unterirdisch. Wie kann eine Höhle so schön sein, wie du sagst?
In meinem Kopf baut sich da nur ein Bild von einem kalten, nassen Loch auf«,entgegne ich, an ihren Worten zweifelnd. Sie lacht mit einem klaren Ton auf.
»Du wirst verstehen was ich meine, wenn du es gesehen hast«,meint sie erneut ziemlich selbstüberzeugt und grinst vor sich hin.
»Da bin ich ja mal gespannt«,erwidere ich amüsiert und richte meinen Blick wieder auf die vorbeiziehende Landschaft.

»Miena, wach auf, wir sind da.«
Nach dem wir die Unterhaltung über Dysia beendet hatten, hatte ich mich wieder an die Tür gelehnt und meine Augen in der Hoffnung auf etwas Schlaf geschlossen.
Zwar war ich körperlich nicht müde, aber seelisch komplett ausgelaugt.
Offenbar war ich trotzdem in einen recht tiefen, aber nur mehr oder minder erholsamen Schlaf gesunken. Das scheppernde Zuschlagen der Fahrertür reißt mich endgültig aus dem Halbschlaf und lässt mich leicht aus dem Sitz zucken.
Blinzelnd mustere ich meine Umgebung.
Eine kleine Siedlung ist im Halbdunkel des nahen Abends zu erkennen. Sie erinnert mich ein wenig an unsere, doch vielleicht ist das auch nur Einbildung. Der Pick-Up steht am Straßenrand vor einem kleinen, aber nett wirkenden Haus, aus dem kein Licht zu kommt. Alysanne sitzt schon nicht mehr auf dem Fahrersitz, doch im nächsten Moment öffnet sich die Beifahrertür und das Gesicht der jungen Frau erscheint neben mir.
»Auf was wartest du?«,fragt sie verwundert und ich schüttele nur leicht den Kopf, um die restliche Träge vom Schlaf zu vertreiben.
»Komme schon«,antworte ich dann leise und schiebe mich seufzend aus dem Wagen. Meine Beine und Füße fühlen sich etwas taub an, sowie auch meine restlichen Gliedmaßen.
Ich hasse lange Autofahren. Trotz dessen, dass die Digitaluhr am Tempomat mir verraten hat, dass wir gerade einmal zwei einhalb Stunden gefahren sind.
Im Vergleich dazu was noch vor uns liegt, ist es wirklich wenig, was mich innerlich aufstöhnen lässt. Immer noch müde ziehe ich meine Kapuzenjacke, die ich im Wagen als Decke benutzt habe an und schließe die Autotür hinter mir, ehe ich die Hände in den Jackentaschen versenke und Alysanne zum Haus folge.
Es verwundert mich etwas, dass aus dem Haus, trotz der fortgeschrittenen Dämmerung kein Licht kommt. Während ich zu der Hexe trete wandert mein Blick die Fassade hinauf. Sie ist makellos weiß, was sogar im Dämmerlicht erkennbar ist und die Vorhänge hinter den Fenstern sind alle sorgfältig geschlossen.
Alysanne klingelt und seufzend wende ich meinen Blick ab, um mich neben ihr gegen die Hauswand zu lehnen, während wir warten. Kurz studiere ich das Gesicht der Rothaarigen, was mich irgendwie fasziniert. Es sieht jung aus, doch dennoch sprich aus ihren Augen die selbe Weisheit und Vernunft, aber auch Lebensfreude, wie aus ihrem Mund. Als ich merke, dass ich etwas starre, wende ich den Blick ab und lasse ihn über die Umgebung schweifen. Die Sonne ist schon am Horizont verschwunden und die blaue Stunde voll im Gange. Bevor ich den blauen Farbverlauf am Himmel weiter inspizieren kann, ertönen Schritte hinter der halb verglasten Haustür und eine Silhouette erscheint. Geöffnet wird die Tür allerdings nicht.
»Forÿn va Alysanne Edinson - khatera o mjalaz tranÿo erenÿfenna«,sagt Alysanne wieder in der fremden Sprache und drei lange Sekunden passiert nichts, bevor zu hören ist, wie zwei Schlösser aufgeschlossen werden und die Türkette ausgehängt wird, ehe der Türflügel sich öffnet.
Ich stoße mich von der Wand ab, mittlerweile schon interessiert zu sehen, wer mit uns reisen wird.
»Dznÿ tusju r aÿo va«,ertönt die fremde Stimme, die angenehme Ruhe ausstrahlt.
»Ich sehe dein Vater hat dir schon Höflichkeiten beigebracht«,bemerkt Alysanne anerkennend und fügt dann den offensichtlich zweiten Teil der Phrase hinzu, den sie auch schon mit Dad wiederholt hat.
»Dznÿ adhea va aÿo noprur.«
Der große, besonders schmale Junge vor uns macht einen ziemlich ernsten Eindruck, obwohl das irgendwie ein wenig paradox aussieht, auch wenn ich es mir nicht erklären kann warum. Er ist etwa in meinem Alter schätze ich. Mich bedenkt er nur mit einem kurzen Blick, ehe er sich an Alysanne wendet.
»Wer ist sie?«,fragt er die Hexe trocken mit einem Kopfnicken in meine Richtung, so als stünde ich nicht vor ihm, sodass er mich einfach selbst fragen könnte. Ich verkneife mir ein Augenrollen. Ich kann seinen Ton nicht einschätzen. Zum Teil liegt im Klang seiner Stimme ein wenig Abwertung, aber auch das Misstrauen eines Menschen, der diese Skepsis braucht. Falls es Überraschung darüber ist, dass die Bluthexe nicht allein aufgetaucht ist, dann verbirgt er diese ziemlich gut.
»Miena, sie kommt ebenfalls mit nach Dysia«,erklärt Alysanne sachlich.
Seit Blick schweift wieder zu mir und mustert mich.
»Keith«,meint er dann monoton und ich brauche kurz, um zu begreifen, dass er sich vorgestellt hat. Ich nicke nur leicht. Meinen Namen kennt er ja jetzt schon.
»Bist du schon bereit zum Aufbruch?«,fragt Alysanne und sieht sich um,»Wenn die Lage so zugespitzt ist, wie dein Brief implizierte würde ich ungern Zeit damit verschwenden hier herumzustehen. Umso früher wir loskommen, umso mehr Abstand könnten wir bekommen, wenn sie beschließen uns tatsächlich zu folgen.«
So vieles an dem Gespräch verwirrt mich, aber es fühlt sich schon fast so an, als wär ich es schon gewohnt, dass ich weniger als die Hälfte der Dinge hier verstehe.
Keith nickt.
»Ich bin bereit«,antwortet er schlicht und tritt ein paar Schritte in den dunklen Flur zurück, um einen Rucksack hervorzuholen, den er schultert. Er nimmt sich noch eine Jacke und kommt dann zu uns nach draußen.
Alysanne macht sich bereits wieder auf den Weg zum Auto, während ich allerdings noch einen Blick davon erhasche, wie der Junge einen letzten Blick in den Flur wirft, ehe er die Tür zuzieht. Die Wehmut ist bei ihm nicht sichtbar, aber für mich so deutlich spürbar wie der frische Wind der aufkommt.
Während ich zum Wagen zurückschlendere beschäftigt mich allerdings nur der Gedanke, wofür ich nun eigentlich mit ausgestiegen bin.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt