Zweiunddreißig

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Willas und ich sitzen noch eine Weile in Stille draußen, ehe mir auch in meiner Jacke zu kalt wird und wir beschließen zurück nach drinnen zu gehen. Nettles sitzt wieder mit Keith am Tisch und diskutiert grinsend mit ihm über irgendetwas. Als wir näher kommen zeigt sie auf mich. »Cora, stimm mir zu!«,fordert sie. Ich muss unwillkürlich lächeln. »Wobei?«,frage ich schmunzelnd und lasse mich wieder neben sie sinken.
»Ananas ist nicht der schlimmste Pizzabelag«,erklärt sie ihre These und Keith schüttelt nur ablehnend den Kopf.
»Schlussfolgert das, dass es ein guter Pizzabelag ist?«,frage ich nachdenklich, während ich mir die Jacke wieder ausziehe. Als Nettles nickt ziehe ich eine Grimasse.
»Dann bin ich auf Keiths Seite«,beziehe ich meinen Standpunkt und Nettles wirft nur hilflos die Arme in die Luft, während ich und Keith uns leicht grinsend anblicken.

Während der restlichen Zeit im Diner ließen sich meine Gedanken recht gut verdrängen, doch auf der Rückfahrt fällt es mir immer schwerer. Im Auto ist es relativ ruhig, Radiomusik spielt leise vor sich hin und Nettles redet mit Willas. Ich starre aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Schatten der Bäume. Der Gedanke an den Kuss verschwindet nicht aus meinem Kopf. Ich fühle mich schuldig. Ich habe nie offiziell mit Bill Schluss gemacht. Bedeutet das, dass der Kuss - vorallem unter dem Fakt, dass ich ihn bis zu einem gewissen Punkt genossen habe - fremdgehen war? Oder war unsere Beziehung schon ab der Sekunde vorbei, als ich mich entschieden habe mit Alysanne zu gehen?
Der Gedanke lässt mich bis in die Nacht nicht los. Bevor ich ins Bett ging, war ich noch einmal duschen. Etwas zu lang hatte ich vor dem Spiegel gestanden und versucht das Gesicht, das ich sah, zu verstehen. Ich hatte mich an die kurzen Haare ein wenig gewöhnt und doch sah es so fremd aus.
Ich versuchte die Gedanken mit Schlaf loszuwerden, aber mein Körper war nicht so gnädig. Es war so, als würde er sich weigern mich das einfach so hinunterschlucken zu lassen, nun da mich der Gedanke erfasst hatte.
Deswegen schiebe ich gegen 2 Uhr in der Nacht die Beine aus dem Bett, schnappe mir erneut Socken und Pullover und tappe wieder zur Tür. Mittlerweile weiß ich wie weit ich sie öffnen kann, ohne dass sie quietscht. Das Haus ist komplett still, heute knarzen nicht einmal die Balken oder Holzböden. Nur die Stufen der Treppe ächzen erschöpft unter meinen Füßen, als ich sie hinunter steige. Diesmal vergewissere ich mich, dass Willas nicht auf der Veranda sitzt und auch im Wohnzimmer oder der Küche wirklich niemand ist.
Als ich schließlich vor dem Telefon stehe, den Hörer in der Hand, zögere ich.
Wenn ich die Tage richtig zähle ist heute Donnerstag. Vor genau vier Wochen haben sich meine Kräfte das erste Mal gezeigt.
Ein Monat.
Sollte ich das hier tun?
Es könnte gefährlich sein, sollte er jemandem erzählen, dass ich ihn angerufen habe. Offiziell bin ich auf der Flucht vor der Polizei. Ob er das auch glaubt?
Schließlich beginnen meine Finger allerdings von allein seine Nummer zu wählen, den Protest meines Verstandes ignorierend. Als gedämpft das erste Tuten ertönt, hebe ich den Hörer langsam an mein Ohr.
Schon beim dritten Ton schlägt mein Herz mir bis zum Hals.
Wahrscheinlich wird er nicht rangehen.
Bill geht selten an sein Handy.
Ich weiß nicht, ob ich hoffen soll, dass es auch diesmal so ist.
Dann knackt es kurz und eine Stimme ertönt.
»Bill Brown, wer ist da?«
Ich halte den Atem an. Meine Kehle will kein Wort herausbringen.
Im Hintergrund ist laute Musik zu hören, vermutlich ist er auf einer Party.
»Bill...«
Meine Stimme bricht und ich suche nach Worten.
»Miena?«,kommt sofort zurück, er klingt augenblicklich nicht mehr gelangweilt von dem Anruf,»Miena, bist du das?«
Mein Mund öffnet sich hilflos, schließt sich dann aber wieder. Ich spüre Tränen von innen gegen meine Augen drücken.
»Es ist vorbei«,murmele ich erstickt,»Es tut mir leid, ich- ich wollte das nie...«
»Miena, leg nic-«
Mit einem etwas zu lauten Knall schlage ich den Hörer auf die Gabel. Ich drücke mir den Handrücken gegen meinen Mund, um ein lautes Schluchzen zu ersticken.
Die Augen beinahe schmerzhaft zusammengekniffen lehne ich mich gegen die Wand neben dem Telefon und versuche den Krampf in meinem Inneren zu lindern, doch das Unterdrücken von Tränen und Schluchzen hilft dabei ganz und gar nicht.
Aber ich will nicht schon wieder weinen.
Seine Stimme jedoch hallt immer noch in meinen Ohren nach. Sie klang bittend, fast ein wenig verzweifelt, dass ich wieder verschwinde.
Mein freier Arm schlingt sich um meine Hüfte, so als würde es helfen meinen Körper auf den Beinen zu halten. Trotz meiner Bemühungen bricht ein gedämpftes Schluchzen zwischen meinen Lippen hervor und meine Brust bebt unkontrolliert.
Durchatmen.
Ich nehme einen tiefen Atemzug, der von kleinen, widerwilligen Japsern unterbrochen wird und atme dann zittrig wieder aus.
Ich wiederhole das Ganze. Es lindert das Gefühl kein Stück, aber es bringt meinen Körper zurück in meine Kontrolle.
Für den Bruchteil einer Sekunde spiele ich mit dem Gedanken Yesko anzurufen, doch es fühlt sich für diesen Moment nicht richtig an. Ich kann nicht erklären warum. Abgesehen davon ist es zwei Uhr nachts und ich spüre die Erschöpfung an meinem Körper zehren.
Nachdem ich noch ein paar kontrollierte Atemzüge genommen habe, stoße ich mich von der Wand ab, um mich vorsichtig in der Finsternis wieder zur Treppe vorzuarbeiten. Die Stufen scheinen diesmal nur noch erschöpfter, als ich sie erklimme.
Nur mein leichtes Zittern konnten die Atemzüge nicht bändigen.
Meine Füße umgehen die quietschenden Dielen und ich schlüpfe zurück zu Keith ins Zimmer. Die Tür öffne und schieße ich vorsichtig, ziehe mir dann leise den Pullover und die Socken wieder aus und schiebe mich behutsam zurück ins Bett.
Die Decke wärmt mich schnell wieder auf nach der Kälte im Haus, doch die Gedanken verschwinden nicht mit der Kälte.
Es war die ganze Zeit selbstverständlich, dass das mit Bill vorbei ist, aber es jetzt offiziell abgeschlossen zu haben, fühlt sich nur zu einem kleinen Teil erleichternd an. Viel mehr fühlt es sich an, als hätte ich damit einen weiteren Teil meines alten Lebens weggeschnitten.
Ich weiß nicht womit ich irgendwann noch verbleibe.
Wieder sammeln sich warme Tränen in meinen Augen und je mehr ich versuche sie zurückzudrängen, desto eifriger scheinen sie ausbrechen zu wollen. In meinem Hals sitzt ein schmerzhafter Knoten.
Erneut dringt ein unfreiwilliges, gedämpftes Schluchzen zwischen meinen Lippen hervor und ich spüre wie mein Körper wieder zu beben beginnt.
Bevor ich mich weiter hineinsteigern kann legt sich plötzlich eine Hand an meine Schulter und ich zucke stärker zusammen, als ich will.
Keith zieht mich leicht zu sich und ich wehre mich nicht, sondern drehe mich in seine Arme, die er schweigend um mich legt. Das Beben meines Körpers lässt genauso langsam nach wie das Ziehen in meinem Inneren. Doch Keiths Wärme hilft und ich drifte trotz des schmerzhaften Knotens in meinem Magen langsam in einen Schlaf ab, während ich stumm beschließe über die Vergangenheit keine Träne mehr zu vergießen.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt