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Um Acht kam ich an der Schule an. Niemand wartete gezielt auf mich. Nur Amy, Celina und Katja standen am Tor. Meine allerbesten Freundinnen, dachte ich sarkastisch. Sie sahen abwertend jeden an, der es wagte, an ihnen vorbei, auf den Schulhof zu gehen. Ihre Körperhaltung und ihre Blicke sagten: „Wir sind was Besseres! Wir sind die Chefs hier!" Ich hoffte inständig, dass ich heute von ihren fiesen Angriffen verschont blieb. Ich betete zu Gott, auch wenn ich nicht wirklich an ihn glaubte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als einen Tag ohne vernichtende Worte von diesen drei Miststücken. Besonders nach der gestrigen SMS, die mir immer noch im Bauch lag. Das Schlimmste an dem Ganzen war, dass man irgendwann das Gefühl bekam, ihre Worte entsprachen der Wahrheit. Weil man sie so oft hörte. Weil so viele sie sagten. Schließlich musste man mitmachen, um nicht selbst Opfer dieser Clique zu werden. Niemanden interessierte es, wie verletzend diese Worte für andere waren, solange man selbst nicht betroffen war. Die Buchstaben von denen jeder Einzelne ein Messer war, das immer genau den wunden Punkt, immer die schlimmste Schwachstelle traf, wurden übersehen. Solange man es konnte, verschloss man die Augen und Ohren und alles andere, außer die Münder. Man wollte ja ganz vorne dabei sein, um nicht auf die andere Seite gestoßen zu werden. Auf die Seite, über die sich niemanden seinen schönen, leeren Kopf zerbrach. Es war, als wären die „Coolen" eine Insel gewesen und alle Anderen das Meer. Die drei Mädchen und alle Anhänger waren sicher und trocken und wollten ihren Platz an Land unbedingt behalten, wollten allesamt trocken bleiben. Während wir Tag für Tag versuchten, nicht zu ertrinken und unterzugehen.

Trotz all meines Betens und Hoffens wurde ich erneut Opfer der Drei. Ich wurde es immer wieder, Tag für Tag. Und trotzdem hoffte ich auf den einen Morgen, an dem ich es nicht sein würde. Ich wollte nicht wehrlos sein, aber ich hatte keine Worte. Ich hatte nicht einmal den nötigen Mumm, meine Fäuste einzusetzen. Wem würde man wohl glauben? 

„Schaut, da kommt die wortlose Schlampe", sagte Katja, die Eine mit den blondesten Haaren, mit den teuersten Klamotten, mit den gemeinsten Worten und den herablassendsten Blicken. Kurz: Die Anführerin der Drei. 

„Du meinst das Flittchen, das Angst vor Worten hat und deswegen nicht spricht.", kicherte Amy, von der ich bis vor einem halben Jahr gedacht hatte, sie wäre zu schlau für solche Gemeinheiten. 

„Wie dämlich man sein muss, Angst vor Worten zu haben. Wahrscheinlich finden das ihre Eltern auch.", mischte Celina sich bissig ein, „Bestimmt warten die Eltern auf die nächstbeste Gelegenheit, um dieses Etwas loszuwerden." 

„Dieses sprachlose, ekelhafte Etwas. Schaut sie euch doch bloß an. Vielleicht hat sie Krankheiten, schließlich kann sie ohne Worte nicht zum Arzt gehen.", stellte Amy angeekelt fest. 

„Was kann man den ohne Worte machen? Außer jedem dahergelaufenen Jungen einen zu blasen: Nichts! Ich glaube, nicht einmal das könnte sie. Wofür hat sie überhaupt das Loch in ihrem Gesicht, es ist doch nutzlos. Generell dein Leben ist total sinnlos, so wortlos. Warum bringst du dich nicht um?", fragte Katja. Sie schaute mich dabei mit einem hinterhältigen Lächeln an. „Bring dich einfach um, dann muss sich niemand mehr mit dir quälen. Das wäre eine Befreiung für deine Eltern. Eine Erleichterung für alle Therapeuten, deren Job es ist, sich mit so etwas wie dir auseinanderzusetzen. Es wäre nur gut für alle."

„Rette die Erde, bring dich um!"

"Das schlimmste an deinem Tod wäre, die Sauerei wegzumachen, die du hinterlässt!"

Zum Schluss wusste ich nicht mehr, von wem welcher verletzende Kommentar kam. Ich wusste nur, dass sie noch so viel mehr sagten, an diesem einen Morgen. Ich hörte irgendwann nicht mehr zu. Ich stand einfach da und wartete, bis sie mich durch das Tor ließen. Bis sie mich befreiten für die nächsten Minuten. Ich wusste, dass so eine Befreiung nicht von großer Dauer war. Sie hatten immer wieder zuschlagen. Immer weiter drauf, in der Hoffnung, dass ich vielleicht eines Tages nicht mehr kommen würde. Nie mehr kommen würde. Weil ich mich umgebracht hätte. Weil ich tot wäre. Weil sie mich getötet hätten mit ihren unsichtbaren Stichwaffen.

UngesprochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt