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Ich wusste, was ich über Menschen als Gewohnheitstiere gesagt hatte. Aber ich war mir nicht mehr sicher. Konnten wir uns wirklich an alles gewöhnen? War Einsamkeit eine Gewöhnungssache? Ich las viel. Viele Bücher, viel im Internet. Man sollte mit sich selbst zufrieden sein. Mit sich allein klarkommen. Sich selbst glücklich machen und all das. Man musste sich selbst lieben, bevor andere einen lieben konnten. Ich wusste das alles. Ich hatte es schließlich gelesen. Immer und immer wieder sagte ich mir, dass ich mich nur selbst lieben müsste. Aber es  war schwer, ich viel zu leicht und dünn. Viel zu sehr ich. Vielleicht  war das die Pubertät, all die bösen Hormone, die meinen Körper ganz verrückt machten. Vielleicht war das eine Phase. Vielleicht ging das vorbei. Aber worauf sollte ich noch warten? Wie lange hielt diese Phase denn an? Ich wollte nichts mehr als jemanden, der mich liebte. Und wenn das niemand tat, musste ich es selber tun! Mich selber lieben!

Vielleicht wurde ich dann endlich wieder so unbeschwert wie Oskar. So fröhlich und frei. Ich glaubte, er sah in allen Dingen ein Wunder. Immer die Farben und immer das Gute. Bestimmt war das der Grund, warum jeder ihn mochte. Jeder ihn drücken wollte. Jeder gern mit ihm Zeit verbrachte. Er machte alles gut. Und das Gute noch besser. Und das Bessere fast perfekt. Er bekam es hin, den schönen Tagen die Krone aufzusetzen und den schlechten die Macht zu nehmen. Er ließ mich nicht nachdenken. Er ließ mich nur fühlen. Er lebte in seiner bunten Welt. Eine Welt, in die jeder gern einmal einen Blick werfen würde. So viele Farben wie dort sein mussten, so viel Sonne und Schnee. So viele Stern und Blumen. So wenig Menschen und Worte. Weil ich all das mochte und mir vorstellte, dass es an einem wunderschönen Ort genauso aussah.

Vielleicht waren in Oskars Welt aber auch einfach nur ein paar Farbstifte, mit denen er selbst alles bunt machte. Mit denen er lachende Smileys überall dort hinmalte, wo es gerade traurig ausschaute. Ich lächelte bei dem Gedanken, wie Oskar Regenwolken mit lächelnden Gesichtern bemalte. Wie er die Sonne glücklich machte und sie scheinen ließ. Ich wünschte mir, dass auch ich irgendwann mit bunten Farben bemalt werden würde, um die Farben in mich einzusaugen, sie aufzunehmen und auszustrahlen . Ich wollte, dass meine Augen genauso strahlten wie die von all den glücklichen Menschen. Das wünschte ich mir. Für mich. Für meine Eltern. Für Oskar. Vielleicht würde ich es irgendwann hinbekommen, mich selbst zu bemalen, dachte ich. Wenn mir jemand seine Stifte leihen würde.

„Tessa, wir wollen los. Kommst du mit?", fragte meine Mutter lauthals. Durch das ganze Haus, die Treppen hinauf. Ihre Laute dehnten sich in diesem kleinen Universum, das sich unser Haus nannte, aus. Ich hasste diese Art von Fragen. Ich konnte nicht Ja oder Nein sagen, nur nicken. Allerdings besaß meine Mutter auch keine übernatürlichen Kräfte und konnte demnach auch keine meiner Kopfbewegungen sehen. Also schnappte ich mir meine Tasche und verstaute schnell meine weißen Kopfhörer und ein schwarzes Notizbuch darin. Ich griff nach dem rotbraunen Schal, den ich zuvor lieblos auf meinen Schreibtischstuhl geschmissen hatte und lief die Treppe hinunter.

Meine Mutter schaute ungläubig, fast ein wenig enttäuscht darüber, dass ich mich entschlossen hatte, mitzukommen. Sie wollte ungern mit ihrem spinnenden Kind gesehen werden. Mit der Tochter, die sie nicht gut genug erzogen hatte. Ich wusste nicht, was für sie unangenehmer war, meine Wortlosigkeit oder das Versagen ihrerseits bei meiner Erziehung. Ich dachte jedenfalls, dass sie von beidem nicht gerade erfreut war.

Mein Vater schien von alldem nichts mitzubekommen. Das konnte er gut, dieses "Nichts mitbekommen". Manchmal hatte ich das Gefühl, er verschloss die Augen vor all dem. Vor all den unausgesprochenen Enttäuschungen meiner Mutter, vor all den ungesagten Dingen, die schon längst hätten gesagt werden müssen. Er war der Einzige, dem ich mich vielleicht anvertraut hätte, damals als das Mobbing anfing. Nur leider war er zu dieser Zeit viel unterwegs. Arbeiten. Geld verdienen. Für gute Verhältnisse sorgen. Damit er seiner Frau und seinen Kindern ein schönes Leben bieten konnte. Häufig hatte ich mitangehört, wie meine Eltern Streit hatten, weil mein Vater sich so wenig kümmerte und nie da war, nur Geld verdiente und an den Job dachte. Ich machte ihm keine Vorwürfe, er konnte kaum etwas mitbekommen und versuchte nur das Richtige zu tun. Ich liebte ihn, sehr. Und ich hatte Angst, für ihn eine schlechte Tochter zu sein. Ich wollte ihn nur glücklich. Aber nur wenn ich glücklich war, konnte ich auch ihn glücklich machen.

UngesprochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt