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"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte er. Wo sollte er denn sonst sitzen?

Neben mir war in jedem Fach der einzige, freie Platz. Er musste. Ob ich wollte, war hier also gar nicht die Frage. Obwohl ich sicherlich wollte. Trotzdem war ich viel zu perplex, ihn anzusehen und völlig überwältigt, sodass ich nur ganz leicht nicken konnte.

Er verstand mein kleines Zeichen, schob den Stuhl zurück und ließ sich neben mir nieder. Er war dabei ganz elegant und trotzdem wirkte er cool und lässig. Im Gegensatz zu mir gelang ihm das, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht.

Ich starrte auf den Tisch vor mir. Ich hätte mit alle Menschen als neue Mitschüler vorstellen können, aber nicht ihn.

Er gehörte hier nicht her! Es war doch der Himmel und das Meer, was hatte er hier in der Hölle zu suchen?                                                                                                                                                       Plötzlich kam mir ein Gedanke, vielleicht war er das Lichtlein, von dem Frau Sennet tags zuvor gesprochen hatte. Ich kannte ihn zwar nicht genauer, aber ich spürte wieder das grüne Pflänzchen in mir. Die grüne, kleine Hoffnung.

„Jetzt kannst du nicht wegrennen.", stellte er flüsternd fest. Ich erstarrte. Das hatte ich in der Aufregung ganz vergessen.

Ich war vor ihm weggerannt. Ich war am vorherigen Sonntag vor ihm geflüchtet und es war mir in diesem Moment so unglaublich peinlich. Am liebsten wäre ich versunken!
Ich sah verstohlen zu ihm. Warum nur hatte ich meinen Beinen diesen dummen Befehl gegeben, loszurennen?

Ich schnappte mir einen Zettel und schrieb in meiner ordentlichsten Schrift:                                                                                                                  Ich wollte gar nicht, es ist einfach so passiert. Ich war geschockt!                                                                           Ich schob ihn zu ihm und weil er ihn nicht bemerkte, tippte ich ihn an. Sofort bekam ich eine Gänsehaut. Ich wusste nun nicht mehr, wie ich mich verhalten sollte, also widmete ich meiner Aufmerksamkeit wieder komplett der Lehrerin. Sie schrieb gerade eine Mindmap an die Tafel.

„What do you like to do with your friends?", lautete die Überschrift.

Ich konzentrierte mich auf die Stimmen meiner Mitschüler, die nach und nach richtige Antworten beisteuerten und danach kopierte ich das Tafelbild. Ich durfte nur nicht daran denken, wer neben mir saß. Vielleicht war er dann gar nicht da. Vielleicht sah er mich dann nicht. Vielleicht war ich dann für ihn gar nicht da. Ich hoffte es.                     
                                                                                                                                „Ich weiß.", säuselte er direkt neben meinem Ohr. Ich zuckte zusammen, hatte nicht mit seiner so nahen Stimme gerechnet. Ich hörte sein leises Lächeln und spürte seinen Atem in meinem Haar. Unwillkürlich musste auch ich Lächeln. Vielleicht war er wirklich mein Licht. Hier, im Dunkeln.

„Ich hätte mich trotzdem gefreut, wenn du geblieben wärst.", sagte er jetzt ganz ernst.

Ich drehte mich um und traf unvermittelt auf das Blau. Das Blau, dieses einmalige, unglaubliche Blau. Schlagartig vergas ich den Unterricht und alles um mich. Es gab nur noch ihn und mich. Und ich wollte auch nicht, dass das durch irgendetwas oder irgendwen kaputt gemacht wurde. Okay, es war verrückt! Ich überhörte die Worte der Lehrerin, weil mein schneller Puls meine Ohren vollkommen einnahm.          

Immer wieder wanderte mein Blick verstohlen zu ihm, sodass ich mir heimlich sein Profil einprägte. Er hatte seinen Blick gesenkt. Die langen Wimpern, die die blauen Edelsteine wunderbar umzäunten. Die gerade Nase, diese vollen Lippen und das kantige Kinn, welches sein Gesicht irgendwie älter wirken ließ. Irgendwie männlich. Er war wunderschön, fiel mir auf. Nicht nur die Augen, sondern sein ganzes Gesicht. Er hatte diese Art von Schönheit, bei der man zweimal hinschauen musste. Mindestens zweimal. Eventuell auch öfter. Definitiv öfter!

UngesprochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt