#2 - Alles Gute kommt von oben

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"Fassen Sie mich nicht an!", fauchte sie den Fremden panisch an, während sie sich aus seinen Armen zu befreien versuchte. Dass es solche Wahnsinnigen außerhalb von Büchern und Filmen überhaupt gibt!
Dieser Kerl bewegte sich jedoch keinen Schritt und lächelte nur weiter merkwürdig auf sie herab.
Dass genau ich wieder diejenige sein muss, welche von solchen Irren als attraktiv empfunden wird! Strahle ich so eine Aura aus? "Hallo, nehmt mich mit, nichts geht über Drugs, Sex and Crime?!"
"Aus welcher verdammten Einrichtung sind Sie ausgebrochen?", fuhr Marie fort, während sie versuchte, ihn zwischen die Beine zu treten. Als sie es schließlich schaffte, ihm ihr Knie in seine empfindliche Zone zu rammen, ließ er sie los und sank ein Stück in sich zusammen, sodass sie die riesigen, weißen Flügel auf seinem Rücken besser sehen konnte. Mit einer eindrucksvollen Spannweite von geschätzten über zwei Metern füllte er den Gang, auf welchem sie standen, ziemlich gut aus.
"Das hat noch nie jemand mit mir gemacht", keuchte er, grinste jedoch dabei.
"Der Allmächtige wird nicht glücklich sein, wenn er das erfährt, aber es lässt mich sündhafte Gedanken denken, wenn du so-"
Bevor Marie sich weiterhin diesem Fiebertraum ähnlichen Spektakel hingeben musste, stürzte sie aus der Kirche heraus und ließ diesen Typen, welcher doch offensichtlich nicht mehr alle Beeren am Strauch hatte, darin zurück. Als sie ein Stück fort gejoggt war - ihre Beine schmerzten von den ziemlich verkrüppelten Schritten in dem engen Kleid - veringerte sie ihr Tempo und blieb stehen, um erleichtert durchzuatmen. Ihre Lunge schien vor Anstrengung zu zerspringen, dazu fürchtete sie, nun zu stinken wie eine wandelnde Männerumkleide. Aber sie hatte es geschafft! Das würde sie ihren Enkelkindern noch erzählen. "Als eure Oma noch jung war, hat sie es einmal geschafft, vor einem Wahnsinnigen zu flüchten, welcher sich als Engel ausgegeben hatte."
Nun gut, vielleicht nicht wirklich Stoff für kleine Kinder, aber sicher, wenn sie schon älter wären. Falls sie überhaupt Enkelkinder haben würde. Bei der aktuellen Auswahl an männlichen Partnern fand sich nach ihrem Geschmack keiner, mit welchem sie den Rest ihres Lebens - oder auch nur ein gemeinsames Essen oder gar eine gemeinsame Nacht - verbringen wollte. Willow würde bei der Party vermutlich wieder einen Verkupplungsversuch starten, doch war Marie es mittlerweile gewohnt, jeden noch so aufdringlichen Kerl schnell wieder loszuwerden.
Sie kam auch gut alleine zurecht.

. . .

Kokaviels POV

Sobald die dunkelhaarige Schönheit verschwunden war, nahm sich Kokaviel die Zeit, sich ein wenig in dem atemberaubenden Monument 'Kirche' umzusehen. Dass die Menschen etwas so prunkvolles errichtet hatten, um den Allmächtigen zu ehren, erfreute ihn zutiefst. Er war jedoch nicht nur geblieben, um sich an Gottes Stelle geehrt zu fühlen. Er war noch damit beschäftigt, sich von ihrem Tritt zu erholen - er war sowieso viel schneller als sie und würde sie sofort einholen. Kokaviel schwelgte für einen Moment in der Vorstellung, ihr hinterher zu jagen und sie in seine Arme zu schließen, als er einen Luftzug spürte. Es war ein warmer Luftzug, nicht unangenehm, doch zog es in dem robusten Gebäude nicht. Ein wenig alarmiert erhob sich Kokaviel von seiner Bank, als er auch schon eine Stimme hinter sich hörte.
"Was verschlägt dich denn in die Welt der Sterblichen, Kokaviel?"
"Nithael", seufzte der Angesprochene und schlug die Augen nieder.
"Dasselbe könnte ich dich fragen."
Als er sich umdrehte, blickte er einem hageren, doch kräftigen Engel entgegen, welcher von seiner Erscheinung her nicht älter als 16 hätte sein können. Er schüttelte seine kurzen, blonden Locken, sodass sie ihm nicht mehr in die warmen, braunen Augen fielen und lächelte.
"Private Gründe", meinte dieser knapp, als sich wieder jemand hinter Kokaviel zu Wort meldete.
"Also, die Sterbliche hat dich aber ziemlich in die Knie gezwungen."
Akatriel klopfte Kokaviel freundschaftlich auf die Schulter. Aus dem Augenwinkel blitzten ihm die strahlend weißen Zähne des anderen entgegen.
"Eigentlich sollte ich es nicht sein, erst recht nicht wegen deiner Schmerzen, aber ich muss sagen, dass ich beinahe eifersüchtig bin."
"Ihr alle seid eifersüchtig", bemerkte da ein weiterer Engel.
Kokaviel versteifte sich, musste sich nicht einmal umdrehen - er wusste sowieso, wer sich da hinter Akatriel und ihm aufhielt - und baute sich vor den anderen dreien auf.
"Bis auf Kokaviel. Er strahlt im Moment eine sehr gereizte Aura-"
"Gut erkannt, Cael", schnaubte dieser, plötzlich von einer unbändigbaren Wut erfasst. Noch nie hatte er sich dem Bösen, Hass, Abscheu, allem, was die Menschen auszeichnete und was sie eigentlich meiden sollten, sie, die Engel Gottes, erst recht, so hingegeben wie jetzt.
"Wenn auch nur einer von euch", fauchte er, "sie anrührt, wenn irgendjemand sie anrührt, mache ich ihm das Leben zur Hölle."

. . .

Maries POV

"Ich möchte dir jemanden vorstellen!", brüllte Willow gegen die laute Musik an.
"Was?"
"Komm mit!"
Widerwillig folgte Marie ihrer Freundin. Sie hatte sich in Willows Badezimmer noch einmal frisch machen können, nachdem ihre Haare wirr vom Kopf abgestanden hatten. Kein Wunder, wenn man vor einem Verrückten geflohen war. Wo der Kerl herkam, wollte Marie sich gar nicht ausmalen. Vermutlich wäre er vor 100 Jahren noch mit Elektroschocks und Wasserbehandlungen bearbeitet worden, um ihm seinen Wahnsinn, von wegen, er sei ein Engel, auszutreiben. Obwohl sie gerne wüsste, wo er diese wirklich realistischen Flügel her hatte. So überzeugend, als wäre sie auf einen Charakter aus einem Film gestoßen. Bloß, dass es nach der CGI der Szene-
Maries Blick fiel auf einen jungen Mann in der Menge. Langsam, wie in Zeitlupe, schien er sich zu ihr umzudrehen. Bei seinem Anblick stockte der jungen Frau der Atem. Also, allein die Erscheinng dieses Fremden schien, als wäre er ebenso einem Film nach der CGI Überarbeitung entsprungen. Die restlichen Leute, welche sich im Takt der Musik bewegten, schienen zu verschwimmen und in weite Ferne zu rücken. Marie sah bloß sein volles, langes, blondes Haar, welches sich fast bis zu seinen Schultern lockte, die durchdringenden, blauen Augen und das bezaubernde Lächeln, als ihre Blicke sich trafen. Vermutlich hätte sie sich nie von der Erscheinung des Fremden losreißen können, als Willow sie ansprach. Oder, was bei der lauten Musik eher hinkam, anbrüllte.
"Das hier ist Lucius. Sag hi zu Marie, Lucius!"
Zu ihrer Freude öffnete der Blonde den Mund, um Willows Wunsch nach zu kommen. Dass ihre beste Freundin ihr den schönsten Mann des Erdballs vorstellte, grenzte an einen Traum, genauso fieberhaft und unrealistisch wie das Zusammentreffen mit einem Engel.
"Schön, dich kennenzulernen, Marie."
Trotz den Bässen, welche in ihren Ohren zu hämmern schienen, verstand sie jedes seiner Worte. Lächelnd erwiderte sie den Gruß.
"Hallo, Lucius."
Ihre beste Freundin sah grinsend zwischen ihnen hin und her, bevor sie Marie auf die Schulter klopfte.
"Ich lasse euch zwei dann mal allein. Ich muss ja eine gute Gastgeberin sein und so."
Im Vorbeigehen flüsterte sie Marie noch schnell ins Ohr. Sie verstand nicht ganz, was sie gesagt hatte, aber es klang sehr wie "Du kannst mir später danken".
"Also, Marie", kämpfte Lucius gegen die laute Musik an.
"Wollen wir uns zum Reden irgendwohin zurückziehen, wo es ruhiger ist?"
Eifrig nickend folgte sie dem großen, muskulösen Traumprinzen wieder aus Willows Haus heraus, um sich dann auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf eine Bank zu setzen. Bunte Lichter und laute Musik schwappten von dem großen Einfamilienhaus zu ihnen herüber, während Marie froh war, der Menge an sich aneinander reibenden Körpern entkommen zu sein. Der Abend war angenehm kühl und eine sanfte Brise fuhr ihr durchs Haar, während ein paar Glühwürmchen von dem Grundstück hinter ihnen herüberschwirrten. Es war die perfekte Sommernacht.
"Das ist doch viel besser", meinte Lucius. Er besaß eine beinahe hypnotisierende Stimme, welche dem Schnurren einer Katze glich. Doch nicht irgendeiner Katze - es müsste schon eine Raubkatze sein, ein Löwe wurde ihm am ehesten gerecht.
"Ja, sehr viel besser."
Der Blonde lehnte sich auf der Holzbank zurück, welche auch schon bessere Zeiten gesehen hatte.
"Wie alt bist du eigentlich?", fragte sie neugierig und musterte ihn eingehend. Sie selbst würde ihn auf mindestens 20 schätzen, wenn nicht älter. Er selbst schien zu überlegen, als hätte er vergessen, wie alt er war. Dabei waren seine Augen durchgehen auf sie geheftet, er schien mit seinem Blick durch ihr schwarzes Haar zu fahren, über ihre Wange zu streicheln und sie dann vollständig auszuziehen. Gruselig.
Schließlich regte er sich und richtete sich auf, um sie anzulächeln.
"Alt genug, um dir zu raten, dich von mir fern zu halten."
Marie nahm seine Aussage als Herausforderung und zog eine Augenbraue hoch.
"Weshalb sollte ich mich denn vor dir fernhalten?"
Lucius grinste einen Moment lang, senkte den Blick und schien den Boden um Gnade oder passendere Worte anzuflehen, als er wieder ihren Augen begegnete.
"Weil ich dem, was du als Satan bezeichnest, überraschend nahe komme."

Wings - Wie die Liebe sprichwörtlich vom Himmel fielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt