Sobald Marie am nächsten Tag die Augen aufschlug, fühlte sie sich merkwürdig. Als wäre etwas passiert und sie hätte bereits eine bestimmte Ahnung. Wie ein sechster Sinn.
Unruhig stand sie auf. Sie musste alle anrufen, die sie kannte. Irgendjemandem musste etwas passiert sein, anders konnte sie sich dieses Gefühl nicht erklären. Oder sie brauchte einfach die Versicherung, dass alles okay war und es all ihren Liebsten gut ging. Sobald sie ihr Handy gefunden hatte, rief sie als erstes bei ihren Eltern an.
"Hallo? Maman?"
"Hallo, mon lapin, was gibt's?"
"Ich... Wollte nur fragen, wie es euch so geht...", murmelte Marie, wobei sie sich bei diesen Worten merkwürdig vorkam. Das war doch eine ganz normale Frage, warum schämte sie sich nun so? Das Gefühl, paranoid zu sein, stieg langsam in ihr auf.
"Ach, wie lieb von dir, mon chouchou! Uns geht es gut, Papan schläft noch, die alte Schlafmütze! Es wundert mich fast, das du schon auf bist, schließlich schläfst du in den Ferien immer mindestens bis elf, dass du schon um neun auf bist grenzt an ein Wunder!"
"Wie witzig Maman", lachte Marie freudlos in den Hörer. So früh war sie gar nicht aufgestanden und so spät stand sie auch nicht auf! Jedenfalls nicht immer. Nur manchmal.
"Ach, lass mich dich doch ein bisschen necken. Wie geht es dir denn? Es ist so schön, mal wieder von dir zu hören. Dein Vater und ich fühlen uns schon ganz vergessen!"
"Mir geht es... Blendend! Ich... Es tut mir leid, dass ich mich nach der Party nicht mehr gemeldet habe, aber es war ziemlich viel los und ich bin danach ziemlich schnell ins Bett..."
"Hauptsache, du hattest deinen Spaß! Du, chérie, ich muss leider aufhören. Mich erwartet ein gigantischer Berg Bügelwäsche. Aber du könntest uns doch zur Sonntagsmesse begleiten!"
"Ähm, danke, aber ich habe leider schon was vor."
"Wie fast jeden Sonntag", seufzte ihre Mutter.
"Aber gut, wir hören uns. Bisous!"
"Salut."
Erleichtert legte Marie auf. Nicht nur, weil sie einer weiteren Messe entkommen war, sondern auch, weil es ihren Eltern gut ging. Als nächstes musste sie Willow anrufen. Doch es sprang bloß die Mailbox an.
"Heeeeey, Mitmensch! Leider bin ich gerade dabei, eine Zombiewelle nach der anderen abzuwehren, versuch es also am besten in zehn Minuten oder gegen Ende der Apokalypse wied-"
Deprimiert legte Marie auf. Hoffentlich ging es Willow gut. Aber vermutlich war sie wirklich einfach nur paranoid. Sie hätte nicht so eine Vorliebe für Horrorfilme entwickeln sollen. Das kam wohl heraus, wenn man dieses Filmgenre allen anderen vorzog.
Sie wollte sich gerade ein Buch zum Lesen holen, als ihr etwas aus dem Augenwinkel ins Auge sprang. Durch die gläserne Terassentür hatte sie freies Blickfeld auf ihren minimalistischen Garten, der zu ihrer Wohnung gehörte. Ein Rabe flog waghalsige Manöver in ihrem Garten. Interessiert sowie neugierig ging Marie auf das Szenario zu. Bei näherem hinsehen fiel ihr auf, dass der Rabe etwas viel kleineres, Blaues zu jagen schien. Als sie erkannte, dass es ein Schmetterling war, versuchte sie sich in den Biologieunterricht zu Schulzeiten hineinzuversetzen. Sie war sich ziemlich sicher, dass Raben keine Schmetterlinge fraßen. Oder allgemein Vögel diese Insekten verspeisten, fraßen sie mich nur die Raupen? Aber andererseits wollte sie nicht eingreifen. Schließlich sollte man der Natur ihren Lauf lassen. Ein unbestimmtes Gefühl trieb sie trotzdem dazu, die Türen zu öffnen und zu versuchen, das schwarzglänzende Federviech zu verscheuchen. Vielleicht hatten sie die durchgeknallten Ereignisse so weit beeinflusst, dass sie nun völlig irre handelte. Mit wedelnden Armbewegungen und vielen 'Hey!'s und aggressivem Gebell konnte sie schließlich den Raben verscheuchen. Gut, dass man sie nur hören, aber nicht hatte sehen können. So bestand noch die Chance, dass jemand das Bellen auch wirklich für einen Hund halten könnte.
Der blaue Schmetterling war zu Boden gesunken, wo er nun zitternd, beinahe wie ein Blatt, dass der Wind streichelte, lag. Sein einer Flügel sah ziemlich geknickt aus. Dass Marie einem Schmetterling jemals so nah sein konnte war immer ein Kindheitstraum gewesen. Diese Insekten waren immer so schön und doch so unerreichbar gewesen, beinahe wie eine gute Bikinifigur, wenn man ein Schokoholic war...
Doch einen Wimpernschlag später stand sie nicht mehr über einem blauen Schmetterling, sondern über einer Frau ungefähr Ihren Alters mit langem, wallenden, blonden Haar, dass ihre Brust bedeckte, während ein sanft bläulich schimmerndes Tuch um ihre Hüfte ihre restlichen Intimbereiche verdeckte. Ihr Haar stand wild vom Kopf ab und sie sah aus, als wäre sie bei einem Autounfall oder einer Schlägerei zwischen die Fronten geraten. Mit einem Schrei stolperte sie nach hinten, um auf ihrem Allerwertesten zu landen.
"Was zur Hölle?!"
Die Blonde rollte mit den Augen.
"So schrecklich kann ich im Vergleich zu dir gar nicht aussehen. Ich bin es nicht, die in einem 101 Dalmatiner Pyjama im Gras sitzt", bemerkte sie schnippisch, bevor sie sich zitternd aufzurappeln begann.
"Das war ein Weihnachtsgeschenk", murmelte Marie leise, noch immer mit schockgeweiteten Augen. Hatte sich da gerade vor ihren Augen ein Schmetterling in einen Menschen verwandelt? Krass.
Anscheinend hatte sie den Verstand verloren.
"Hast du nicht", bemerkte da die blonde Gestalt, welche sich an einem Baum abstürzte und ziemlich mitgenommen aussah.
Kann sie etwa Gedanken lesen?!
"Mhm."
Erschrocken klappte Marie die Kinnlade herunter. Konnte dieser Ko... Kokosnuss... Coke... Kartoffel... Wie auch immer er hieß... Das auch?
"Kokaviel kann das nicht, nein. Aber wegen ihm bin ich auch nicht hier."
Ihr kalter, abschätzender Blick fixierte sie.
"Sondern wegen dir."
Ach, kacke. Wahrscheinlich ist es vergeblich, darauf zu hoffen, dass sie sich bloß für meinen Lebenslauf interessiert, weil sie ein Jobangebot für mich hat.
Anscheinend gab sich ihre neue beste Freundin sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Sie hielt sich zitternd an dem Stamm der kleinen Weide, welche schon da gewesen war, bevor Marie eingezogen war, fest, um sich aufrecht halten zu können. Mitleid nahm von ihr Besitz, als sie sich vom Boden hoch stemmte. Wenn das schon eine Wahnvorstellung war, so würde sie wenigstens das Beste daraus machen.
"Hey, ähm... Komm doch erst mal rein, ich kann dich notdürftig verarzten."
Die Blonde sah sie skeptisch an und musterte sie misstrauisch, doch als Marie an sie herantrat, lehnte sie sich an sie und ließ sich von ihr stützen. Für Fragen wäre später Zeit, obwohl sie eher damit rechnete, dass es in echt niemanden gab, dem sie Fragen stellen könnte. Vermutlich war alles bloß Einbildung, eine Art Fieberfantasie. Sie sollte demnächst einen Therapeuten aufsuchen.
"Ich bin echt", murmelte die Blonde neben ihr.
"Ich kann dir zwar nicht versichern, dass du noch alle Beeren am Strauch hast, doch ich kann dir immerhin sagen, dass ich zu 100% existiere und mir alles weh tut."
"Warum hat dich ein Rabe attackiert?", fragte Marie interessiert. Es war ihr eher herausgerutscht, doch sie konnte ihre Neugierde einfach nicht verdrängen. Die Schmetterlingsfrau schnaubte verächtlich.
"Bist du wirklich naiv genug, um zu glauben, dass das ein normaler Rabe war? Ist das dein Ernst?"
Ein wenig beleidigt sowie verwirrt runzelte Marie die Stirn.
"Was soll es sonst gewesen sein? Es hatte zwei Flügel, zwei Augen, zwei Beine, hatte schwarze Federn, konnte Fliegen und war ein Vogel. Es bleiben nicht gerade viele Möglichkeiten, welche sich auch auf London beziehen. Wir haben hier nicht so viele schwarze Vögel der Verdammnis!"
Die Blonde musterte sie von der Seite, einen spöttischen Ausdruck in den hellen Augen, welcher diese zu verdunkeln schien.
"Genauso wenig wie ich ein Schmetterling bin war das ein Rabe", meinte sie schließlich schlicht, nachdem Marie und sie sich eine Weile einfach nur angestarrt hatten. Stirnrunzelnd drückte die junge Frau die Terassentür zu ihrer Wohnung auf, um der komischen Dame zum Sofa zu helfen.
"Wie darf ich das verstehen?", fragte sie, nachdem sie der anderen geholfen hatte, sich auf ihrer Couch hinzusetzen.
"Alles, das fliegt, ist in Wahrheit ein Mensch?"
Ihr gegenüber zog humorlos einen Mundwinkel hoch, um ihn gleich wieder sinken zu lassen.
"Witzig", bemerkte sie trocken.
"Wie du vermutlich weißt, gibt es keine weiblichen Engel - daher wirst du mich auch nicht finden, wenn du nach meinem Namen suchst; Ich heiße Sara."
Sie begegnete Maries Blick mit ihren eigenen, hellbraunen Augen.
"Alle 'Untertanen' Gottes, wenn man so will, die keine Engel sind, tarnen sich als Schmetterlinge, sollten sie auf der Erde gebraucht werden. Deswegen habe ich auch keine Flügel", sie deutete auf ihren Rücken, um dann das Gesicht vor Schmerz zu verziehen, "...in meiner Schmetterlingsform sind diese schon praktisch inkludiert. Auf der anderen Seite sind wir nicht die einzigen, die diese Methode nutzen, um unerkannt zu bleiben."
Marie rutschte auf ihrem Stuhl weiter vor, vor Neugierde beinahe platzend und von der Gleichgewichtsverteilung her beinahe vom Stuhl fallend.
"Wer macht das denn noch so?"
"Luzifer."
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Wings - Wie die Liebe sprichwörtlich vom Himmel fiel
RomanceMarie ist eine völlig normale junge Erwachsene, wären da nicht ihre erzkatholischen Eltern, welche sie darauf drillen möchten, so strikt zu werden wie sie, möglichst bald einen Mann zu ehelichen und dann jeden Sonntag mit ihren hübschen Kindern in d...