Marie wurde von einer grellen Lichteinwirkung auf ihr Gesicht geweckt. Anfangs angenehm hatte die Sonne ihre Wange gestreichelt, um dann weniger liebevoll auf ihre geschlossenen Augen zu scheinen und sie aus dem Schlaf zu reißen. Müde schlug sie die Augen auf, um sich im Angesicht mit einem Horrorszenario eines jeden Teenagers nach einer Party wiederzufinden; sie lag seitlich auf einer Couch, vor sich ein umgeworfener Kaffeetisch und drum herum alles mögliche an Dreck. Plastikbecher, Brösel von Knabbergebäck wie auch fraglichen Ursprungs, Pappteller sowie Pfützen, welche Erbrochenes sein könnten, bedeckten den Parkettboden vollständig und ließen ihn nur hin und wieder hervorscheinen. Gut, dass sie keinen Alkohol getrunken hatte. Sonst hätte sie einen Kater, welcher sich wahrhaftig gewaschen hatte. Als sie sich aufrichtete und ihr die Decke, mit welcher sie zugedeckt worden war, zu Ihren Hüften herunterglitt, musste sie feststellen, dass sie in ihrem Kleid gechlafen hatte. Es sah dementsprechend zerknittert aus und war so weit hochgerutscht, dass Marie auf Ihre weiße Unterwäsche herabsehen konnte. Sie brauchte einfach Beinfreiheit, wenn es ums Schlafen ging.
"Du auch schon wach?", ertönte Willows Stimme hinter ihr aus der Küche.
"Noch fünf Minuten, Mama", rief Marie grinsend, um sich dann von der Couch zu hieven und sich durch den ganzen Müll so gut wie möglich einen Weg in den atemberaubendsten Raum des ganzen Hauses zu bahnen. Er war als einziger auch schon sauber, so weit sie das erkennen konnte. Ihre beste Freundin stand vor der Mikrowelle und schien etwas aufzuwärmen.
"Ich, als Fünf-Sterne-Köchin, koche uns ein wunderbares Frühstücksgericht, welches aus selbstgemachten Apfeltaschen, Croissants und natürlich produzierter Marmelade bestehen wird. Oder, anders formuliert, die Apfeltaschen hat einer der Gäste mitgebracht und ich habe keine Ahnung, ob auch wirklich Äpfel drin sind, die Croissants habe ich in der Brotlade gefunden und die Marmelade ist von einer Kollegin meiner Mutter."
Marie lachte, während Willow grinsend das Gebäck aus der Mikrowelle holte.
"Was denn? Du weißt, wie beschissen meine Kochkünste sind."
"Und war es so schwer, zum Bäcker zwei Straßen weiter zu laufen?"
Willow verzog das Gesicht.
"Zu früh. Kater. Laufen."
Wieder brach Marie in Gelächter aus. Vielleicht war sie einfach zu leicht zu amüsieren, doch Willow schaffte es andauernd, sie zum Lachen zu bringen.
"Ich hatte übrigens gehofft, dass du mir helfen wirst, das Haus wieder auf Vordermann zu bringen", murmelte sie, während sie eine Schranktür öffnete und ganz offensichtlich nach der Marmelade suchte.
"Klar, du kannst auf mich zählen. Wann kommen deine Eltern zurück?"
Mit Marillenmarmelade in der einen und einem Teller mit dem Gebäck in der anderen Hand zuckte Willow bloß mit den Schultern und bugsierte sie zu der geschmackvollen Theke mit den Barhockern.
"Hoffentlich nie, diesen Saustall kriegen wir nie wieder sauber."
Mit einem leisen Lächeln biss Marie probemäßig in eine der 'Apfeltaschen'. Sie schmeckte tatsächlich nach Apfel und einem Hauch Zimt, was ein wenig Weihnachtsfeeling in Marie aufkommen ließ, obwohl sie August hatten.
"Und, essbar?", fragte Willow vorsichtig, sie hielt ebenfalls eine Apfeltasche in Händen, hatte jedoch noch nicht davon gekostet.
"Danke, dass ich Vorkosterin spielen darf. Was, wenn sie vergiftet gewesen wären?"
"Dann hätte ich lange über deinen Tod geweint und deine Leiche im Garten verbuddelt", meinte Willow grinsend, während sie in ihre Apfeltasche biss.
"Wie bin ich eigentlich auf dein Sofa gekommen?"
Ihre beste Freundin runzelte die Stirn in dem Versuch, sich zu erinnern.
"Warte mal... Ich habe dich Lucius vorgestellt... Dann bin ich abgezogen und hab euch nicht mehr gesehen... Später ist er wieder zurückgekommen und hat sich mit einem spärlich bekleideten Typen gestritten, während sie dich reingetragen haben. Sie standen wie Bodyguards vor dem Sofa und haben dich verteidigt wie zwei Bulldogen einen Knochen-" "Schmeichelhafter Vergleich, Dankeschön."
"Ist ja auch egal, mir ist nichts Besseres eingefallen. Als so ziemlich alle weg waren, sind auch sie gegangen, obwohl ich Lucius beinahe von dir wegzerren musste. Aber sonst ist nicht viel passiert, du hast nichts verpasst. Ganz davon abgesehen, dass ich mich an nicht viel erinnern kann. Da war so ein Quentin, mit blonden Haaren und blauen Augen, mit welchem ich, glaube ich zumindest, rumgeknutscht habe, aber da bin ich mir gar nicht so sicher..."
Nachdenklich nahm sie noch einen Bissen von ihrer Apfeltasche. Lucius und - sie nahm jedenfalls an, dass es Kokaviel gewesen war - Kokaviel hatten sie einfach zu ihr reingebracht? Wie anständig von ihnen. Beinahe war sie ein wenig enttäuscht, dass ihr Körper nicht anziehend genug war, um über ihr schlafendes Selbst herzufallen. Obwohl, so enttäuscht dürfte sie gar nicht sein; Marie war nicht die Schlankeste und sah schlafend immer grauenhaft aus. Zwar hatte sie das Gefühl, dass ihre Haare einigermaßen akzeptabel fielen, wenn sie schlief, doch die junge Frau redete manchmal im Schlaf und konnte sich vorstellen, vermutlich auch zu sabbern. Dass ein Typ wie Lucius dann nicht so unbedingt über sie herfallen wollte war dann ja wohl mehr als verständlich.
"...und ich glaube außerdem, dass eine Lampe kaputt gegangen ist. Hörst du mir überhaupt zu?"
"Klar, klar", murmelte Marie weggetreten und schenkte Willow ein sanftes Lächeln.
"Sorry, aber ich habe zugehört. War nur kurz mit den Gedanken woanders", fügte sie hinzu, als sie Willows fragenden, nicht gerade begeisterten Blick sah.
"Nun gut, ich möchte dir glauben. Und weil ich so eine tolle Freundin bin, entlasse ich dich sogar. Ich ruf einfach die Dienstmädchen an, sie sollen sauber machen."
Wenn ihre beste Freundin es nicht manchmal nebenbei erwähnen würde, könnte Marie beinahe vergessen, wer von ihnen beiden in der reichen, einflussreichen Familie lebte. Und das war definitiv nicht sie. Willow wurde rund um die Uhr umsorgt und bräuchte eigentlich keinen Finger rühren, wäre sie nicht so ehrgeizig und duldete es nicht, wenn man ihr alles aus den Händen nahm und sie nichts tun musste als zu schnipsen und ihr Wunsch war allen Befehl. Irgendwie schien es sie zu stören, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten. Als erwartete sie sich jemanden, der ihr endlich die Stirn bot, jemanden, der genauso störrisch sein konnte wie sie und genauso temperamentvoll.
Ganz im Gegensatz zu ihren Eltern wäre sie eine schreckliche Anwältin - vermutlich würde sie niemanden zu Wort kommen lassen und sämtliche Wutausbrüche erleiden - und keine besonders gute Geschäftsfrau - im Angesicht einer Niederlage würde sie vermutlich ganz London niederbrennen, um dann weiter auf ihrem barbarischen Feldzug die ganze Welt zu erobern. Marie konnte es schon vor sich sehen; ihre Freundin, von Frauen, den Amazonen nicht unähnlich, und Männern, mit den Spartanern zu vergleichen, umzingelt, bereit, mit ihrem Gefolge alle das Knie beugen zu lassen. Selbst die Queen. Und Tom Hiddleston.
"Hast du nicht gehört? Ich habe keine Verwendung für dich, Sklave, ab mit dir, da gibt es einen jungen Mann, den du vernaschen solltest, anstatt mit mir radioaktive Apfeltaschen zu essen!", meinte Willow, wobei sie ihr den Ellbogen sanft in die Seite rammte.
"Ich pack das schon. Auf mit dir!"
Marie zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
"Ich bezweifle nicht, dass du das Haus wieder sauber kriegst, aber diese göttliche Erscheinung mich vernaschen? Niemals. Sieh mich an. Nichts als Schwabbel und Celulitis in Schokoladenmuster."
Anders als erwartet brach ihre Freundin in Gelächter aus. Es war kein fröhliches Lachen, eher kalkulierend und kalt.
"Jetzt verschwinde endlich aus meinem Blickfeld, bevor ich dich noch rausschmeiße. Wir müssen echt an deinem Selbsbewusstsein arbeiten. Du hast einen wundervollen Körper, ma chèrie! Sieh mich an!"
Tatsächlich folgte sie ihrer Anweisung und ließ ihren Blick ihren Körper auf und wieder ab wandern. Anders als Marie war Willow sehr dünn, schlank, beinahe schon dürr, dementsprechend nicht gerade kurvig geraten, mit kaum Oberweite und keinen sehr breiten Hüften oder sehr viel Hintern. Aber sie war wenigstens herzeigbarer als sie, wie Marie befand.
"Du bist mindestens so schön wie ich, wenn du mich schon so in die Höhe lobst. Aber gut, ich räume das Feld. Arividerci, Periodenschwein!"
Grinsend erhob sie sich von ihrem Barhocker. Diesen Spitznamen würde Will niemals wieder loswerden. Sie hatte einst gemeint, ihre Stimme klinge, als hätte sie eine Schwein, das seine Tage hatte und verzweifelt im Angesicht des Schlachthofs schrie, verschluckt. Nun würde dieser Spitzname sie nie wieder verlassen. Genauso wenig wie Rollteppich, Hunnenschäler oder paarungsbereite Qualle, um einige zu nennen.
"Veruriniere dich hinweg, du aufdringliche junge Dame!", kicherte ihre beste Freundin noch, dann kramte Marie nach einer letzten Umarmung ihre Habseligkeiten zusammen und verließ das gigantische Haus. Gerade wollte sie über den Preis des enormen Gebäudes sinnieren, als sie von einer Stimme aus ihren Gedanken gerissen wurde.
"Ich hatte gehofft, dich hier anzutreffen."
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Wings - Wie die Liebe sprichwörtlich vom Himmel fiel
RomanceMarie ist eine völlig normale junge Erwachsene, wären da nicht ihre erzkatholischen Eltern, welche sie darauf drillen möchten, so strikt zu werden wie sie, möglichst bald einen Mann zu ehelichen und dann jeden Sonntag mit ihren hübschen Kindern in d...