Prolog

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Mit geschlossenen Augen lehne ich an der Rückenlehne des Beifahrersitzes. Leise dringen die Töne einer mir allzu bekannten Melodie an mein Ohr. Es ist das Lied, das Jack und ich zum ersten Mal hörten, als wir uns kennenlernten. Auch auf unserer Hochzeit, die schon Ewigkeiten zurückliegt, wurde das Lied gespielt. 

Ganz versunken in den Klang, merke ich erst später, dass Jack mit mir spricht. Ich drehe meinen Kopf vom Fenster weg und schaue ihm in die Augen. Wie sehr ich es liebe, mich in den Tiefen seiner ozeanblauen Augen zu verlieren. Aufmerksam präge ich mir sein Gesicht, seine Konturen und Kanten ein. Seit wir uns vor vielen Jahren kennengelernt hatten, hatte sich viel verändert. Sein Gesicht wurde mit fortschreiten der Zeit kantiger, seine Haut faltiger und sein Haar grau und schütter. 

Trotzdem liebe ich meinen Mann immer noch von ganzem Herzen und jeden Tag wächst diese Liebe ein kleines Stückchen mehr. Vor allem seit Ella unser Leben mitgestaltet, sind wir glücklicher denn je. Sie ist die beste Enkelin die man sich wünschen kann.

„Schatz. Geht es dir gut? Du wirkst so abwesend und gedankenverloren.", reißt mich Jack aus meinen Erinnerungen. Ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln und versuche ihn damit zu beruhigen: „Ja mir geht es gut. Ich war nur gerade in Gedanken bei unserer kleinen El. Ich finde es nicht in Ordnung, dass wir sie einfach für die nächsten Tage bei ihren Eltern lassen. Sie war noch nie so lange ohne uns." 

Mein schlechtes Gewissen plagt mich schon seit wir uns von Ella verabschiedet hatten und sie uns mit Tränen in den Augen nachwinkte. Das kleine Mädchen ist wirklich etwas besonders. Leider können wir aber nicht anders und müssen El für kurze Zeit mit ihren Eltern alleine lassen, denn das Treffen morgen, ist von höchster Wichtigkeit.

Ich wende mich Jack zu und sehe gerade, wie er sich angespannt durch die Haare fährt. Auch ihn scheinen die Gedanken und Schuldgefühle wegen El nicht zu verschonen. Einerseits ist es vielleicht sogar gut, dass wir El mit ihren Eltern alleine lassen, denn so haben diese die Chance, sich endlich ihrer Verantwortung zu stellen und sich um ihr Kind zu kümmern. Andererseits konnte man nie wissen, was in diesen wenigen Tagen alles passiert. Wir sind beide so in Gedanken versunken, dass wir gar nicht merken, wie ein Auto, das viel zu schnell unterwegs ist, immer mehr auf unsere Fahrbahnseite gerät. 

Der letzte Ton von unserem gemeinsamen Lied verklingt gerade in dem Moment, in dem wir die Gefahr erkennen. Jack versucht im letzten Moment, die Bremse zu betätigen und dem Auto auszuweichen, aber es ist schon zu spät. Die beiden Autos prallen mit einem lauten Knall frontal ineinander. Reifen quietschen, Metall ächzt und Glas splittert. Im einen Moment sind wir noch auf der Fahrbahn, im nächsten Moment überschlägt sich unser Auto und wir landen nach einem kurzen Moment, der mir wie eine Ewigkeit erscheint, in einer Böschung. Ich werde durchgeschüttelt, herumgeschleudert und von irgendetwas spitzem im Oberarm getroffen. Endlich, eine Ewigkeit später, kommt das Auto zum Liegen. 

Es ist als würde die Zeit stillstehen, die Schwerkraft nicht mehr existieren. Ich schaue mich sofort um und entdecke Jack, der neben mir im Gurt hängt und anscheinend bewusstlos ist. Ein Blick auf meinen Körper genügt um zu sehen, woher die Schmerzen kommen. Das Auto landete so, dass der Ast von dem Baum, der unseren Sturz stoppte genau durch das Fenster durchbrach und nun in meine rechte Seite des Oberkörpers sticht. Aus der großen Wunde tropft Blut und bei dem Anblick drohe auch ich in die Dunkelheit abzusinken. Ich merke, wie sich mein Körper verkrampft und mein Herz in einem unnatürlichen Rhythmus schlägt. 

Vorsichtig strecke ich meinen unverletzten Arm nach Jack aus und versuche ihn wachzurütteln. Nach mehreren Versuchen gelingt es mir schließlich ihn aus seiner Ohnmacht zurückzuholen, doch was ich dann sehe, lässt mich erstarren. Seine linke Gesichtshälfte ist komplett verbrannt und auch sein Oberkörper ist von starken Verbrennungen betroffen. Wo die herkommen weiß ich nicht, aber sie müssen sehr schmerzhaft sein. Er streckt mir seine Hand entgegen und wir verschränken unsere Finger in einander. 

Gerade möchte er etwas sagen, da überfällt ihn ein starker Hustenanfall. Aus seinem Mund kommt Blut, viel zu viel Blut. Ich versuche die Türe aufzustoßen, doch mein Fuß lässt sich nicht bewegen. Er ist in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Mein Inneres, das bis jetzt noch ziemlich ruhig war, ist plötzlich in höchster Alarmbereitschaft. Was, wenn das die letzten Minuten meines Lebens sind? Die Verletzungen sehen ziemlich schlimm aus und sollte nicht bald Rettung kommen, würden wir diesen Unfall nicht überleben. Meine Vermutungen werden durch die nächste Schmerzenswelle verstärkt.

Ich muss irgendetwas tun, das wertvolle Erbe, das ich in mir trage, darf nicht einfach verloren gehen. Normalerweise wird das Erbe von der Mutter an die Tochter oder den Sohn überreicht, wenn diese sich bereit dazu fühlt, aber ich hatte nie die Gelegenheit mit meiner Tochter darüber zu reden, geschweige denn sie in diese andere Welt einzuweihen. Was soll ich jetzt machen? Es muss eine Möglichkeit geben, das Erbe zu erhalten. 

Als hätte Jack meine Gedanken gehört, presste er mit schmerzverzerrter Stimme hervor: „Übergib das Erbe Ella. Unsere Tochter kann nichts mit dem Erbe anfangen, aber El ist anders. Sie wird es verstehen und eines Tages, wird sie erkennen, dass sie etwas Besonderes in sich trägt und den Schatz hüten. Wir haben keine andere Wahl. Ich merke, dass das unsere letzten Atemzüge sind und jede Rettung zu spät sein wird. Wir müssen es jetzt tun!" 

Er hat recht. Auch ich merke, wie ich langsam meine Energie verliere und die Zeit davon rinnt. Während ich spreche, summt die Macht in mir, so als würde sie sich darauf vorbereiten, was gleich passiert.„Ich Johanna Elisa Estrela übergebe hiermit mein Erbe an meine Enkelin Ella Johanna Hamston. Möge sie gut darauf aufpassen und es bis zum richtigen Zeitpunkt hüten, wie einen wertvollen Schatz. Möge sie immer Gutes von Bösem unterscheiden, das Licht in der Finsternis erkennen und einen Ausweg aus jeder Sackgasse finden. Möge sie ein Sternenkind werden, wie es noch nie vorher gab..... Ella mein Kind, wir lieben dich und auch wenn du uns nicht siehst, wir werden immer über dich wachen. Vergiss nie, wo deine Wurzeln sind. Du bist eine echte Estrela. Wir glauben an dich. Zeig der Welt was in dir steckt und erhelle sie mit deinem Dasein." 

Die Umgebung wird in ein helles blaues Licht getaucht. Nach dem Ende meines Spruchs verwandelt es sich in eine Kugel und schießt davon. Zurück bleibt nur noch ein leichter Schimmer. Hoffentlich haben wir die richtige Entscheidung getroffen. Jack stöhnt laut auf und ich wende meine Aufmerksamkeit sofort ihm zu. Er lächelt mich an, trotz der Qualen, die er leiden muss. Ich lächle zurück und schaue ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich Jack", flüstere ich mit heißer Stimme. Jack hat nicht mehr die Kraft zu sprechen, aber in seinem Blick erkenne ich all die unausgesprochenen Worte, die mir seine Liebe zeigen. Unsere Körper nähern sich langsam und wir küssen uns. Ein allerletztes Mal, bevor alles in Flammen aufgeht.

Sternenkuss- Unter Sternen erwacht #GoldenAward18, #brilliants18, #BeginnerAwardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt