Als ich mich umdrehe, blicke ich ihm direkt in die Augen. Diese goldbraunen Augen... »Hey, schönes Mädchen.«
Er lächelt mich verschmitzt an. »Na, kennst du mich noch?«
Ich trete, in Erinnerung an unser letztes Treffen, einen Schritt zurück und verziehe genervt das Gesicht.
»Ja klar, du bist der dreiste Typ aus dem Park. Wilson oder so?« Er muss lachen und dabei bilden sich kleine Grübchen in seinen Mundwinkeln. Plötzlich fallen mir auch helle Sommersprossen über seiner Nase auf. Irgendwie ganz niedlich, finde ich.
»Fast richtig. Ich heiße Nathan, aber das weißt du sicher auch, ich hatte es dir gestern förmlich hinterhergebrüllt«, antwortet er und zwinkert mir frech zu. Natürlich weiß ich, dass sein Name Nathan lautet, aber eine kleine Neckerei konnte ich mir nach unserer gestrigen Begegnung nicht verkneifen.
»Ok, Nathan, und was genau willst du von mir?«, frage ich und drehe mich wieder Richtung Hörsaal, um nach Marvin Ausschau zu halten.
»Ich möchte dir etwas geben. Ich glaube, das schulde ich dir. Wann hast du heute deine letzte Veranstaltung?«
Noch bevor ich antworten kann, kommt Marvin geradewegs auf uns zu und zieht sofort die Stirn in Falten, als er Nathan sieht. »Nou, was ist hier los?« Er wendet seinen Blick nicht von Nathan ab.
»Dein Name ist Nou? Ernsthaft? Klingt ziemlich bescheuert, wenn du mich fragst.« Marvin rückt einen Schritt vor, verschränkt die Arme vor der Brust, sagt aber nichts. »Sorry, Bro«, kommentiert Nathan Marvins Geste und schlägt dabei die Hände über den Kopf, »Ich wollte deiner Kleinen nicht zu nahe treten.« Sein Grinsen dabei ist pure Provokation.
Dieser Typ ist echt ein Idiot! Ein Idiot mit schönen Augen, aber ein Idiot!
Dass er mir auflauert, mich beleidigt und dann auch noch meinen besten Freund provoziert und all das völlig aus dem Nichts heraus und innerhalb weniger Minuten macht mich wütend.
»Hey, lass ihn gefälligst in Ruhe! Und mich auch. Was auch immer du von mir willst, es ist mir egal. Du schuldest mir auch nichts, ich kann darauf verzichten. Und beleidigen lasse ich mich schon gar nicht!«
Stinksauer drehe ich mich um und laufe los. »Hey!«, höre ich Nathans tiefe Stimme hinter mir rufen, »Das war doch nicht böse gemeint! Sei nicht so empfindlich, ich finde nur, der Name passt einfach nicht zu einem so hübschen Mädchen wie dir!«
Na toll, jetzt macht er sich auch noch lustig über mich? Das ist ja die Höhe! Ich verstehe diesen Menschen einfach nicht. Vermutlich ist er wirklich nichts weiter als ein attraktives Arschloch.
»Warte mal, ich komme ja kaum hinterher!«, keucht Marvin einige Meter hinter mir. Ich hatte in meiner Wut gar nicht gemerkt, wie schnell ich davongelaufen bin. Sofort senke ich mein Tempo, bis der Blondschopf mich eingeholt hat und entschuldige mich für den abrupten Abgang.
»Was wollte er denn von dir?« Wir biegen in den Seitenflügel ab, der zur Mensa führt. »Nichts von Bedeutung. Du hast fast alles mitbekommen, er wollte sich wohl einfach über mich lustig machen. Hat bestimmt keine Freunde oder so... Sieh mal da vorn!« Ich deute auf Ruby, deren grelle Haarfarbe ich überall erkennen würde. Sie gibt gerade ihre Essensmarke vor der Mensa ab und scheint zu... tanzen? »Ruby!«, rufe ich, doch sie hört mich nicht und reiht sich mit einem Hüftschwung in die Essensschlange ein. »Sie hat vermutlich Kopfhörer auf. So habe ich sie letztens schon auf dem Weg in die Bibliothek gesehen.« Marvin grinst und äfft Rubys Bewegungen nach. Ihm dabei zuzusehen lockert immerhin ein wenig meine Stimmung.Je näher wir der Mensa kommen, desto deutlicher nehme ich den Duft frisch aufgebrühter Kaffeebohnen und heißer Croissants wahr. Prompt meldet sich lautstark mein Magen. Selbst Marv scheint das nicht entgangen zu sein. »Na dann war mein Vorschlag, frühstücken zu gehen, ja goldrichtig!«, lobt er sich selbst und reibt sich den Bauch. »Allerdings!«
Wir kramen unsere Marken aus den Taschen und geben sie bei dem älteren Herrn am Eingang der Mensa ab. Die Schlange ist nicht besonders lang, da die meisten Studenten vermutlich gerade in ihren Vorlesungen stecken, die länger als zehn Minuten dauern.
Ich schaue an den Leuten vor uns vorbei, um Ruby zu finden. Zwischen ihr und uns stehen noch ein paar andere. Gerade will ich auf uns aufmerksam machen, entscheide mich dann aber doch dagegen. Sie versüßt sich die Wartezeit mit ihrer Musik, da will ich sie nicht stören.
Wie ich sie so beobachte, kommt mir der Gedanke, wie selbstbewusst sie ist. Mir wäre es viel zu peinlich, hier zwischen den ganzen Leuten zu summen und mit den Hüften zu wackeln. Aber Ruby stört es keineswegs. Sie ist absolut im Reinen mit sich und der Welt. Irgendwie bewundere ich sie dafür.
Nach ein paar Minuten sind wir so weit vorgerückt, dass Ruby bereits mit vollem Tablett an uns vorbei kommt.
»Ach nee, Leute!« Sie legt die Kopfhörer auf den Schultern ab und strahlt uns regelrecht an. »Habt ihr nicht 'ne Vorlesung? Egal, wir frühstücken zusammen, oder? Ich schnapp' uns mal den Tisch da drüben am Fenster.« Fröhlich tappst sie zwischen den Tischen hindurch zur Fensterfront der Mensa.
Nachdem auch wir uns mit Säften, Kaffee und Sandwiches eingedeckt haben, gesellen wir uns zu Ruby. Mir fällt der tolle Ausblick auf den südlichen Teil des Campus' auf. Vorallem die riesige Bibliothek wirkt von hier aus im Nachmittagslicht der Herbstsonne noch imposanter als ohnehin schon.
»Von euch hätte ich am wenigsten erwartet, dass ihr schon in der ersten Woche die Uni schwänzt«, reißt mich das schmatzende Mädchen aus meinen Gedanken. »Wir schwänzen nicht!« Marvin protestiert mit erhobenem Zeigefinger. »Professor White hat nach zehn Minuten den Raum wieder verlassen.« Ruby prustet los.
»Dann seid ihr wohl der schlechteste Kurs in der Geschichte der NCU!« Ihr Lachen klingt schrill und ich muss direkt kichern. Marvin murmelt nur ein »Haha« und beißt in sein Sandwich. Als sich Ruby endlich wieder gefangen hat, fährt sie fort: »Ihr habt also Professor White? Der soll 'n strenger Typ sein. Super Persönlichkeit, aber hart in seiner Bewertung. Meine Mitbewohnerin hatte ihn mal in einem ihrem Kurse. Zum Glück studiere ich Architektur und nicht so ein Laberfach wie ihr«, lacht sie wieder. »Wir werden sehen. Mich hat seine Aktion ziemlich neugierig gemacht«, gebe ich zu und überprüfe den Belag meines Sandwiches.
»Marvin, konntest du sie für Samstag begeistern?« Ruby schaut ihn erwartungsvoll an. »Klar ist sie dabei!« Ich überlege kurz, worüber die beiden sprechen und dann fällt es mir plötzlich wieder ein: die Kostümparty!
»Ach ja... Ich hatte es schon wieder verdrängt.« »Verdrängt? Nein Anouk, das verdrängt man doch nicht! Es wird die Party des Jahres! Studenten aus allen Semestern werden anwesend sein. Es gibt gute Musik, Drinks ohne Ende und laut meiner Mitbewohnerin auch jede Menge Trinkspiele! Das wird großartig!« Sie grinst über beide Ohren und klatscht aufgeregt in die Hände. Marvin und ich zucken bloß unbeeindruckt mit den Schultern. »Euer Ernst?«
»Ich habe ehrlich gesagt noch nie ein Trinkspiel gespielt, aber anderen dabei zugesehen und das hat mich eher abgeschreckt als überzeugt«, rechtfertige ich mich und Marvin ergänzt: »Außerdem empfinde ich mich als Gentleman, deshalb bin ich für diesen Kinderkram nicht zu haben. Gegen das ein oder andere Bier habe ich allerdings nichts einzuwenden«, beruhigt er Ruby schnell.
Sie stopft sich den letzten Bissen ihres Hörnchens zwischen die Zähne und brabbelt unverständlich vor sich hin. Dann lehnt sie sich zurück und sagt beschwingt: »Wie auch immer, Hauptsache, ihr seid am Start! Ich gehe übrigens als Kätzchen.« Sie zwinkert uns zu und mit einem obszönen »Miau« bringt sie uns alle zum Lachen.Die Zeit vergeht wie im Flug und die restlichen Vorlesungen gehen relativ unspannend vorüber.
Meine letzte Veranstaltung fand natürlich in dem Gebäude statt, welches am weitesten von meinem Wohnheim entfernt ist. Ich binde mir den Schal enger um den Hals und wage mich hinaus in die Kälte. Auf halber Strecke fängt mich Nathan ab.
Mit zwei Kaffeebechern in der Hand nickt er mir zu. Meine erste Reaktion ist, mich umzudrehen, in der Hoffnung, er meint jemanden hinter mir und nicht ausgerechnet mich. Aber meine Hoffnung verweht im eisigen Oktoberwind, als ich ausser uns beiden niemanden entdecken kann.
Ich bleibe aus Höflichkeit vor ihm stehen und stütze die Hände in die Hüfte. »Was denn nun schon wieder? Hast du nichts besseres zu tun, als mir ständig aufzulauern?«
»Kaffee?« Er hält mir einen Becher vor die Nase. Eigentlich habe ich keine Lust auf eine Konversation mit diesem schmalspurigen Wichtigtuer, aber es ist kalt und ohne Handschuhe und Jacke erfriere ich vermutlich noch bevor ich mein Zimmer erreiche. Also nehme ich den Kaffee wortlos entgegen.
»Ich möchte mich in aller Form für mein Verhalten vorhin entschuldigen«, beginnt Nathan, schüchterner, als ich erwartet hätte. »Läufst du ein Stück mit mir?«
Ich nehme einen Schluck und genieße die herrliche Wärme in meinem Mund. Hmm, er entschuldigt sich bei mir und wartet dafür sogar, wer weiß wie lange schon, obwohl es hier draussen so kalt ist. Vielleicht war ich mit meinem Urteil ihm gegenüber zu voreilig und habe das ein oder andere in den falschen Hals bekommen. Möglicherweise ist er nur ein klitzekleines bisschen Arschloch.
»Ok, lass uns ein Stück gehen.«
DU LIEST GERADE
If Love Was A Season
Teen FictionAnouk Evans ist fürs Studium nach North Carolina gezogen. Sie hat nur ihren besten Freund Marvin an ihrer Seite. Das kühle Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter, der Verlust des geliebten Vaters und das gebrochene Herz machen der 19-jährigen sehr...